German Angst

Mittelschicht und Hartz-Proteste von carlos kunze

Selten haben einige mittelgroße, lahme Demonstrationen so panische Reaktionen beim deutschen Establishment ausgelöst. »Wir sind das Volk«, piepst es sinnlos und unbestimmt auf der Straße, und schon zerlegen sich die deutschen Volksparteien in je einen Flügel pro und contra die Hartz IV-Reformen. Die Pfaffen reißen die Klappe auf und empfehlen, wie Pfarrer Führer in Leipzig, »Friedensgebete« vor den Demonstrationen, bevor noch ein Stein geflogen ist. Flankierend zückt der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, am Sonntag die traditionelle christliche Moralkeule und rät zu »Demut, Treue und Liebe« anstelle von »Freizeit, Fun und Wellness«. Zeitschriften, die gestern noch an jeder Ecke »Sozialschmarotzer« aufspürten, entdecken plötzlich die »Angst vor der Armut«.

»German Angst« – das ist das Stichwort dieses Sommers. Angst ist diffus, wenig fassbar, ein unbestimmtes Gefühl des Bedrohtseins, im Gegensatz zur Furcht, die das Gefühl des Bedrohtseins durch etwas Bestimmtes ist. Angst ist das Grundgefühl des deutschen Bürgertums, das es nie zu einer bürgerlichen Emanzipation gebracht hat, aus einem überaus diffusen Angstgefühl aber – vor Konkurrenten, vor der Krise des Kapitalismus, vor einer proletarischen Revolution – die Macht gerne Kaisern und »Führern« überließ, um die Welt in Schutt und Asche legen zu lassen. Diese Angst tendiert dazu, sich an irgendwelchen Sündenböcken abzureagieren. Daher der treffende Begriff »German Angst«.

Auch in den Protesten äußert sich derzeit eine diffuse Angst. Von einem Interessenskampf mit klar definierten Zielen sind sie meilenweit entfernt. Das Protestpotenzial ist (noch?) ähnlich diffus wie die Slogans. Denn durch die Hartz-IV-Regelungen entdeckt auch die Mittelschicht, dass ihr die Proletarisierung droht. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfeniveau abzusinken – das ist die präzise Drohung von Hartz IV. Aber die Mittelschicht zieht es vor, statt einer präzisen Furcht, auf deren Grundlage sie mit anderen, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, sich organisieren könnte, ihre unbestimmte Angst vor einem sozialen Abstieg zu verbreiten. Sie quietscht, und dieses Quietschen setzt sich unvermittelt in den Massenmedien fort.

Dem Kapital ist das egal. Der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Arend Oetker, erklärt: »Auch die Opposition darf nicht am Reformwerk rütteln.« Bundeskanzler Gerhard Schröder sei dafür zu bewundern, dass er den Reformkurs auch um den Preis des Verlustes der Regierungsmacht vertrete. »Der Kanzler handelt nicht als Parteipolitiker, sondern als Staatsmann.«

Genauer: als Mann des Staats des Kapitals. Da können Attac und PDS und Lafontaine lange einen Staat fordern, der die Wirtschaft sozialverträglich reguliert, der sich sozial gibt wie in den mystifizierten Zeiten sozialpartnerschaftlicher »Klassenkompromisse«. Oetker weiß besser als die Staatsidealisten, was die Realität ist. Gerade in Krisenzeiten tritt klar zutage, dass der Staat weder ein klassenneutraler »Volksstaat« noch eine Anstalt für das allgemeine Wohlergehen ist. Hartz IV ist nur das jüngste Beispiel dafür. Die Aufgabe des Staates ist es, die Kapitalakkumulation am Laufen zu halten und mit seinen Eigeninteressen zu vermitteln. Punkt. Die entscheidende Frage derzeit ist, ob sich in den Protesten gegen Hartz IV diese naheliegende Einsicht, die mit individuellen Erfahrungen korrespondiert, durchsetzt und eine emanzipatorische Bewegung entsteht. Oder ob sich die »German Angst« ressentimentgeladen austobt und einen weiteren autoritären Schub auslöst.