Zeit ist Gold

Die exakte Zeitmessung ist Ausdruck der Rationalisierung aller Lebensbereiche. Ein kurze Geschichte der Zeitmessung im modernen Sport. von beat jung
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Die Ziellinie ist fünf Zentimeter breit, und das Rennen ist am Anfang der Ziellinie zu Ende. »Wir photographieren die Zeit«, sagt Peter Hürzeler, Erfinder und Konstrukteur sowie Vizepräsident der zur Swatch-Group gehörenden Swiss Timing. »Wir schießen 1 000 Bilder pro Sekunde von nur acht Millimetern Breite, fokussiert sind die ersten acht Millimeter der Ziellinie.« Diese winzigen Bildstreifen werden elektronisch aneinandergefügt, etwa so, wie wenn man durch einen Türspalt einen Schnellzug vorbeirauschen sieht und sich im Kopf den Zug dann als Ganzes vorstellt. Auch bei den Olympischen Spielen in Athen werden die AthletInnen von Schweizer Hochleistungskameras in Streifen geschnitten und Zeitbruchteile im Fotofinish eingefroren. Swatch ist nämlich offizieller Zeitnehmer.

»Das Vorderste, das zählt, ist die Brust, nicht der Hals, nicht der Kopf. Mit dem Cursor fahren wir an die Brust, und schon können wir die Zeit ablesen.« Und zwar die offizielle Zeit. Auf den Anzeigetafeln im Stadion und auf den Bildschirmen der TV-Geräte tickt nämlich eine inoffizielle Zeit. In der Regel stimmen beide überein, aber nicht immer. »Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Athleten und Zuschauer einen Weltrekord feiern und wir dann den Zielfilm angucken und merken, dass ein Hundertstel fehlt«, sagt Hürzeler.

Um das zu verhindern, stellen die Zeitnehmer die beiden Photozellen, die mittels zweier Infrarotstrahlen die inoffizielle Zeit ermitteln, am Ende der fünf Zentimeter breiten Ziellinie auf. Für die schnellsten Frauen und Männer der Welt heißt das, dass sie 100,05 Meter sprinten, bis die Zeit gestoppt wird. 1989 beim Leichtathletikmeeting in Zürich, erinnert sich Hürzeler, sei es äußerst knapp gewesen. Der US-amerikanische 110-Meter-Hürdenläufer Roger Kingdom lief inoffiziell 12,89 Sekunden, vier Hundertstel unter dem Weltrekord. Auf dem Zielfilm sah man: Kingdoms Kopf kam nach 12,89 Sekunden, seine Brust aber erst nach 12,92 ins Ziel. Damit lag er nur noch um eine hundertstel Sekunde unter dem Weltrekord.

Eine solche Präzision bei der Zeitmessung wäre den pädagogischen Absichten von Johann Christoph Friedrich GutsMuths sehr zupass gekommen. Die Ungenauigkeit der handelsüblichen Taschenuhren, die »die kleinen Zeitteile gar nicht oder sehr ungenau angeben«, gab ihm immer wieder Anlass Klage, konnte er doch die Zeit nur auf die Viertelminute genau stoppen.

GutsMuths, ein Fanatiker von Uhr und Bandmaß, hatte im späten 18. Jahrhundert die Leibeserziehung zum Unterrichtsfach in der am Rande des Thüringer Walds gelegenen Erziehungsanstalt Schnepfenthal gemacht und – als einer der Ersten überhaupt – die exakte Leistungsmessung und Statistik im Sport eingeführt. Minutiös protokollierte er die Leistungen seiner Zöglinge im Laufen, Schwimmen und Stabhochsprung und hielt sie in Ranglisten fest, mit dem Ziel, seine Schüler zur Leistungssteigerung zu ermuntern, denn es sei auch »für die Jugend angenehm, bestimmt zu wissen, was man geleistet hat und wie viel man mehr leistete als ehedem«. »Herr GutsMuths«, berichten seine Schüler, »führt über alle diese Übungen eine getreue Tabelle, die ihn in den Stand setzt, bis auf den Zoll und das Quintlein zu beurteilen, wie viel jedes Zöglings Kräfte vermögen und wie weit sie sich jede Woche vermehren«.

Diese Buchführung über die »Vermehrung der Kräfte«, erreicht durch Disziplinierung und Abhärtung des Körpers etwa durch Schwimmen in kalten Flüssen, ist Ausdruck der Rationalisierung aller Lebensbereiche durch die Aufklärung. In GutsMuths’ Konzept der Körpererziehung ist bereits das Arbeitsethos der bürgerlichen Gesellschaft angelegt und das Konkurrenzdenken sowie der Glaube an die unbegrenzte Leistungssteigerung des modernen Sports vorweggenommen. Die Ideologie des Bürgertums spiegelt sich auch in GutsMuths’ Belohnungssystem: Der Mensch ist, was er leistet; der gesellschaftliche Rang wird nicht mehr durch Geburt und Standeszugehörigkeit festgelegt.

Hatte ein Schüler eine bestimmte Leistung erreicht, wurde im Betsaal der Erziehungsanstalt auf einer Tafel unter dem Namen des entsprechenden Zöglings ein goldener Nagel eingeschlagen. Ob die Zöglinge L. aus Böhmen und G. aus Franken für ihre Runden um zwei exakt 822 Fuß von einander entfernte Bäume einen goldenen Nagel bekamen, notierte GutsMuths nicht, dafür Folgendes: »27. September 1796: L. aus Böhmen, 28 Umläufe, 45 Minuten, 8,52 Fuss pro Sekunde; G. aus Franken, 28 Umläufe, 50 Minuten, 7,67 Fuss pro Sekunde«. Dazu vermerkte GutsMuths, dass die Schüler am Ende »nur wenig erhitzt« gewesen seien, bei den Witterungsverhältnissen notierte er »kalte Ostluft«.

100 Jahre später – die massenhafte Verbreitung der Uhr als Folge der industriellen Produktionsmethoden hatte ihren Anfang genommen, die Pünktlichkeit war zum Gebot erhoben, Zeit zu Geld geworden – gab’s keine goldenen Nägel mehr, sondern die ersten Olympischen Medaillen der Neuzeit und Zeitangaben in Fünftelsekunden, gestoppt vom britischen Architekten Charles Perry, der 1896 in Athen als einziger Zeitnehmer amtierte. Perry ermittelte nur die Siegerzeiten, die Rückstände der Zweitplatzierten wurden geschätzt. So lag im 100-Meter-Lauf der Deutsche Fritz Hoffmann als Zweiter vom Auge geschätzte zwei Meter hinter dem US-Amerikaner Thomas Burke zurück.

80 Stoppuhren und einen qualifizierten Uhrmacher schickte die Firma Omega 1932 zu den Olympischen Spielen in Los Angeles, wo mit dem Schweizer Uhrenhersteller erstmals ein offizieller Zeitmesser engagiert wurde. Elektronisch gemessene Zeiten wurden erst 1968 bei den Olympischen Spielen in Mexiko offiziell anerkannt. Damit war der auf Brusthöhe über die Ziellinie gespannte Wollfaden – der Erste im Ziel riss den Faden, wodurch mittels eines mechanischen Kontaktes die Siegerzeit stehen blieb – ein Utensil der Leichtathletikgeschichte geworden, abgelöst von Fotozelle und Zielfilm. Verschwunden waren auch die mit Krawatte und Anzug ausstaffierten Zeitnehmer mit dem Daumen an der Stoppuhr, die auf der Höhe der Ziellinie auf beiden Seiten der Bahn auf einer kleinen Tribüne wie auf einem Hühnertreppchen saßen.

Die Umstellung auf die Elektronik blieb nicht ohne Komplikationen. Untersuchungen hatten nämlich ergeben, dass manuell gestoppte Zeiten im Durchschnitt zwischen 15 und 20 Hundertstel besser waren. Das lag an den allzu flinken Daumen der Zeitnehmer, die irrtümlicherweise immer das Gefühl hatten, die Stoppuhr beim Start etwas zu spät in Gang gesetzt zu haben. Um das zu kompensieren, drückten sie im Ziel einfach etwas früher, eben 15 bis 20 Hundertstel zu früh. Um den Unterschied zwischen Handzeitnahme und elektronisch gestoppten Zeiten zu minimieren, wurde in die elektronischen Zeitmessgeräte ein sogenannter »Vorschaltwert« von 0,05 Sekunden eingebaut. Das hieß, von allen Zeiten wurden 0,05 Sekunden subtrahiert. Dabei wäre diese Schummelei gar nicht nötig gewesen, lief doch Jim Hines in Mexiko die 100 Meter in 9,90 Sekunden. Weltrekord. Als der internationale Leichtathletikverband IAAF 1977 nur noch elektronisch ermittelte Weltrekorde zuließ, mussten zu Hines’ Zeit 0,05 Sekunden addiert werden. Aber auch mit 9,95 war der US-Amerikaner für die nächsten 15 Jahre der schnellste Mann der Welt.

Bei manuell gestoppten Zeiten konnte es schon mal vorkommen, dass nicht der Schnellste gewann, sondern die Siegerkür zu einem Akt der Willkür geriet. So geschehen beim 100-Meter-Freistil-Schwimmen bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom. Der Australier John Devitt und der US-Amerikaner Lance Larson schlugen sozusagen gleichzeitig an. Mit 2:1 Stimmen setzten die Zielrichter Devitt auf Platz 1. Anders die Zeitnehmer, die jeweils zu dritt eine Bahn stoppten. Alle drei hatten für Devitt 55,2 Sekunden gestoppt, die Chronometer für Bahn vier, auf der Larson schwamm, zeigten 55,0 und zweimal 55,1. Auch die elektronische Messung, die aber nur inoffiziellen Charakter hatte, sah den US-Athleten vorn: 55,10 Sekunden für Larson, 55,16 für Devitt. Nach einer halbstündigen Rangelei hinter verschlossenen Türen diktierte der schwedische Oberkampfrichter: Platz 1 Devitt und basta.

»Nach diesem Skandal sagten wir uns bei Omega, da müssen wir etwas unternehmen«, erzählt Hürzeler. Die Firma begann ein System mit perforierten Schwimmplatten zu entwickeln. Der Trick bei dem Ganzen: Die SchwimmerInnen stoppen die Zeit durch Anschlagen an der Platte. Diese darf aber nicht auf den Druck der Wellen reagieren. Die Platte war aber nicht ohne Tücke: Feingliedrige AthletInnen blieben oft in den Löchern hängen und brachen sich gar die Finger. Und so erfand Peter Hürzeler 1976 die Anschlagmatte. Er fuhr nach Magglingen ins Schwimmbad und hängte ein Stück Rolladen, bestehend aus kleinen Lamellen, ins Wasser. Erfunden war damit eine Vorrichtung, an der sich die SchwimmerInnen nicht mehr verletzen konnten. Hürzelers Anschlagmatte kommt auch in Athen wieder zum Einsatz.

Ohne Zusammenarbeit mit den Athleten und deren Trainern, sagt Hürzeler, sei die Weiterentwicklung der Zeitmessgeräte nicht möglich. »John Smith, der Trainer des Sprinters Maurice Greene, hat mich beispielsweise darauf hingewiesen, dass unsere Startblöcke für eine Epoche gemacht sind, als die Leute noch kleinere Füße hatten: ›Schau dir mal die großen Füße der Sprinter an. Die haben nur noch die Zehen auf der Auflage bei den Startblöcken. Wie willst du aber mit dem Zeh starten?‹«

Ein Jahr lang tüftelten die Biomechaniker der Universität Michigan zusammen mit Swiss Timing an einer neuen Startanlage. Nach Tests in den Grandprix-Meetings setzen die helvetischen Zeitnehmer die für große Athletenfüße konzipierten Startblöcke in Athen erstmals bei Olympischen Spielen ein. Dank des neuen Systems, so Hürzeler, seien die Sprinter auf den ersten fünf Metern zwei Hundertstel schneller.