Homos im Visier

Während in Osteuropa die Emanzipation von Homosexuellen Fortschritte macht, setzt im Westen ein autoritäres Rollback ein. von tjark kunstreich

Die schwierige Situation sexueller Minderheiten in Osteuropa vermittelt sowohl die Aufbruchstimmung einer Emanzipationsbemühung als auch eine Verklärung alteuropäischer Verhältnisse. Beides macht sie für Westeuropäer attraktiv. Ein Blick auf Frankreich zeigt jedoch, dass die emanzipatorischen Errungenschaften, die der Staat gewährt, keinesfalls identisch sind mit gesellschaftlichen Fortschritten in Sachen Homosexualität. Zieht man die staatlichen Garantien zum Schutz vor Diskriminierung und Verfolgung ab, unterscheidet sich das Bild im Vergleich zu Osteuropa nicht mehr wesentlich.

David Gros, ein 26jähriger Student aus Marseille, konnte das Krankenhaus nach einer knappen Woche wieder verlassen. In der Nacht vom 13. auf den 14. August war er von mehreren Tätern mit Eisenstangen zusammengeschlagen worden, als er sich in der Nähe eines Parks, der als Schwulentreffpunkt gilt, mit einem Freund traf, der ihm die Szene zeigen wollte. Nach seiner Entlassung wendet Gros sich scharf gegen die Art, wie die Medien den Angriff auf ihn auf einen jener Angriffe gegen Schwule, die Parks cruisen, und damit auf die Frage der sexuellen Identität reduzierten: »An diesem Abend war ich ein junger Mann, der sich nach seiner sexuellen Identität fragt, nach seinen homo- und heterosexuellen Beziehungen, mit dem Wunsch, frei zu leben.« Auch die Angreifer hätten ihn auf seine angebliche sexuelle Identität reduziert, als sie ihn mit dem Ruf »Sale pédé, on va t’arranger!« (»Dreckiger Schwuler, wir polieren dir die Fresse!«) schwere Gesichtsverletzungen und Kieferbrüche zufügten, deren Heilung Monate in Anspruch nehmen wird.

»Homos, wo immer sie in ihrem Leben stehen, ob sie offen oder versteckt leben, haben ein Recht auf Sicherheit«, schloss Gros sein Statement. Sein Fall ist wegen der Brutalität in der französischen Öffentlichkeit wahrgenommen worden, und auch, weil er eine Serie von Hassverbrechen gegen Schwule fortsetzt, die der Liberalität, auf die sich die Grande Nation immer noch etwas einbildet, zu widersprechen scheint. So führte noch die sozialistische Regierung Ende der neunziger Jahre mit dem »Pact civil de solidarité« (Pacs) ein fortschrittliches Lebenspartnerschaftsrecht auf der Grundlage des Zivilrechts ein, das nicht nur schwulen und lesbischen Partnerschaften Rechte verschafft, sondern allen solche freiwilligen Verwandtschaftsformen ermöglicht.

Die konservative Regierung in Frankreich veränderte an diesem Rechtsstatut nichts und beeindruckte im Juni diesen Jahres mit einem Doppelschlag: Sie kündigte die Verschärfung des Pressegesetzes im Hinblick auf die Verfolgung der Homophobie an, die nunmehr dem Rassismus und Antisemitismus gleichgestellt wird (Jungle World, 28/04). Zugleich wurde ein Disziplinarverfahren gegen den grünen Spitzenpolitiker Noël Mamère eingeleitet, der als Bürgermeister von Bègles nahe Bordeaux am 5. Juni die erste Schwulenehe in Frankreich getraut hatte, begleitet von wütenden Protesten aufgebrachter Bürger. Mamère wurde im Zuge des Verfahrens für einen Monat von seinem Amt suspendiert (Jungle World, 33/04).

Nur scheinbar liegen Welten zwischen der aggressiven Bekämpfung der Homo-Ehe und der Verschärfung der Gesetzgebung gegen Homophobie. In den vergangenen zwei Jahren wurden in Frankreich die Strafgesetze insgesamt verschärft, und der französischen Law-and-Order-Koalition kam es da gerade recht, den Tatbestand der Homophobie einzuführen: Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger, darin sehen sie ihren Auftrag, und in dieser Sache ist man auch an Schwulen und Lesben interessiert, die, ungefragt, als Kronzeugen für die Verschärfung der Gesetze fungieren.

Die Gegnerschaft zur Homo-Ehe hingegen bedient die autoritären Charaktere, die gegen die Hochzeit von Bègles protestierten, die moral majority, die keine mehr ist, zumindest nicht im Hinblick auf die Homo-Ehe. Nach einer Umfrage des Homo-Magazins Têtu im Juni sprechen sich 57 Prozent der französischen Bevölkerung für die Homo-Ehe aus, im Jahre 2000 waren es noch 35 Prozent. Allerdings sind beinahe ebenso viele, 56 Prozent, gegen das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare. Gefragt, ob sie dafür wären, den Pacs die gleichen Rechte wie der Ehe zu gewähren, stimmen wiederum 77 Prozent zu.

Diese Mehrheit stört weniger die Homophobie als das Geräusch, das um sie gemacht wird. Mit den Gesetzen zur inneren Sicherheit aus dem Jahr 2003 und – bemerkenswerter Name – zur »Anpassung der Justiz an die Kriminalitätsentwicklung« aus dem Frühjahr 2004, in denen der Tatbestand der Homophobie nur einer unter vielen ist, reagierte der französische Staat auf zwei bestialische Morde an Schwulen: Im September 2002 wurde François Chenu in einem Park in Reims von drei Rechten totgeschlagen. Ein knappes Jahr später wurde Jean Pierre Humblot, ein 63jähriger schwuler Mann, in Nancy tot aus dem Rhein-Marne-Kanal gezogen; die beiden Täter waren 16 Jahre alt.

Sébastien Nouchet wurde am 16. Januar in Nœux-les-Mines nahe der belgischen Grenze in seinem Vorgarten lebendig verbrannt, er überlebte schwer verletzt. Nach vier Monaten im Krankenhaus, von denen er mehrere Wochen im künstlichen Koma verbrachte, und zahlreichen Operationen gab er dem Têtu ein Interview, in dem er sich wundert, dass die von ihm erkannten Täter, die ihn bereits seit Monaten terrorisierten, nicht festgenommen werden. Bei der Polizei habe man ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass man seiner Version des Tathergangs nicht glaube. Nouchets Darstellung erinnert an den Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt in Deutschland nach der Wiedervereinigung – und sie verweist auf die Tatsache, dass Gesetze das eine sind, ihre Anwendung das andere.

Auffallend ist, dass die geschilderten Fälle sich in Regionen Frankreichs zutrugen, in denen die antisemitische Gewalt ebenfalls zugenommen hat: im Norden, im Südosten und in der Gegend um Paris, der Île de France. Die Täter sind zumeist rechte Jungmänner mit nazistischem oder islamistischem Hintergrund, deren Aggression sich ebenso antisemitisch äußern kann. Auch die über die normalisierte Gewalt gegen Schwule hinausgehende Brutalität steht in zeitlicher Nähe zur Eskalation antisemitischer Gewalt in Frankreich seit 2001. In anderen westeuropäischen Ländern ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten: Der schwule Mann, die selbstbewusste Frau sind in dem Maße erneut zu Objekten der Verfolgungswut des autoritären Syndroms geworden, wie sich der Antisemitismus in den vergangenen vier Jahren regenerieren konnte.

In Großbritannien rechtfertigte ein so genannter moderater moslemischer Kleriker, der ägyptische Gelehrte Yusuf al-Qaradawi, am 13. Juli zur besten Sendezeit auf Channel 4 Gewalt gegen Frauen und die Tötung von Homosexuellen und Juden. Der linke Bürgermeister von London, Ken Livingstone, nahm nur eine Woche, nachdem er die Londoner Gay Pride Parade angeführt hatte, an einer Konferenz islamischer Gruppen teil, auf der al-Qaradawi ein Referat hielt (Jungle World, 33/04). Die schwule Menschenrechtsgruppe OutRage kommentierte: »Im Namen des Kampfes gegen Islamophobie kollidiert Livingstone mit der Homophobie. Menschenrechte für Homosexuelle scheinen für ihn unwichtig, wenn er Appeasement mit islamischen Fundamentalisten betreibt.«

Das gilt nicht nur für Livingstone, sondern zeigt den grundlegenden Widerspruch auf zwischen Rechten, die der Staat dem Individuum gewährt, und jenen, die ein autoritäres Kollektiv für sich – etwa aufgrund seiner »Kultur« – in Anspruch nimmt, wie zum Beispiel die Verfolgung von anderen. Angesichts einer autoritären Formierung hat noch jeder Staat einmal gewährte Rechte kassiert. Im Osten wird etwas erkämpft, das im Westen, setzt sich die Entwicklung fort, demnächst wieder verteidigt werden muss. Nach der Emanzipation ist vor der Emanzipation.