Der Anti-Karajan

Leonard Bernstein hat sich nie um die Demarkationslinie zwischen E und U gekümmert. Eine Reihe neuer CDs erinnert an sein Schaffen als Dirigent. von roger behrens

Leonard Bernstein dürfte mit Recht zu den bedeutendsten Musikern des vergangenen Jahrhunderts zählen; dies erklärt sich weniger durch sein kompositorisches Schaffen als vielmehr durch seine Stellung innerhalb des Musikbetriebs, dessen Veränderungen er wesentlich mitbestimmt hat. In seiner Arbeit als Dirigent hat er nicht nur dem Bild des Dirigenten neue Konturen gegeben, sondern ein neues Verständnis der bürgerlichen Musik etablieren können, das nachgerade bezeichnend für die gegenwärtige Kultur wurde – jenseits der Demarkationslinie zwischen E und U. Das hat ebenso damit zu tun, dass es in den Vereinigten Staaten ohnehin keine wirkliche hochkulturelle Musiktradition gab und ein spezifisches Musikleben erst von der Komponistengeneration begründet wurde, zu der auch der 1918 geborene Bernstein gehörte.

Bernstein hat seine öffentliche Position als Künstler immer politisch, als eine von gesellschaftlicher Verantwortung verstanden; in dem pädagogischen und sozialen Engagement Bernsteins zeigt sich auch der Einfluss des radikaldemokratischen Pragmatismus eines John Dewey.

War es auch in Amerika üblich, Musikpädagogik weitgehend auf Notenlesen und das Erlernen eines Instruments zu beschränken, so ist Bernstein der Wegbereiter einer Musikpädagogik, die ihre Parallelen eher bei Brecht oder der sowjetischen Schule findet: Bernstein vermittelte Musik, indem er kritisierte. Seine Analysen sind Kommentare, keine Belehrungen. Er nutzte dafür den Rundfunk, vor allem aber das Fernsehen. Mit seinen »Omnibus«-Fernsehkonzerten (1954 bis 1958) und den »Young People’s Concerts« (ab 1958) hat er schließlich Öffentlichkeit ebenso definiert wie einen Begriff von populärer Ästhetik, fundiert in einem sozialistischen Humanismus. Die Sympathien für die kommunistische Bewegung teilte Bernstein indes mit anderen Komponisten wie Marc Blitzstein oder Aaron Copland. Solche Sympathien gehören schließlich zu den zentralen Motiven von Bernsteins Musikverständnis. Man hat ihn auch Amerikas größte Ein-Mann-Kapelle genannt.

Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Bernstein hat Popkultur begründet, ohne jemals Popstar gewesen zu sein. Und mit Übertreibung lässt sich ergänzen: Sein Umgang mit Musik bezeichnet den schmalen Grat einer emanzipatorischen Kultur, die im 20. Jahrhundert trotz ihrer permanenten Verhinderung doch möglich war. Dafür stehen die Aufnahmen, die jetzt sukzessive bei der Deutschen Grammophon in hübschen »Collector’s Edition«-Slimcases wieder erscheinen. Bis jetzt liegen vor: Beethoven, »Neun Symphonien«, Johannes Brahms, »Die Symphonien« u.a., Jean Sibelius, »Symphonien Nr. 1, 2 , 5, 7« u.a. sowie die Sammlung »The Americans« mit Aufnahmen von Barber, Bloch, Copland, Foss, Gershwin, Harris, Ives, Rorem Schuman, Del Tredici. Unter den weiteren, noch folgenden Boxen wird zudem eine mit Bernsteins eigenen Kompositionen erscheinen.

Bernstein beginnt seine Karriere Anfang der vierziger Jahre, im Schatten des Niedergangs der künstlerischen Avantgarden in Europa. Wenige Juden haben es geschafft, dem nazideutschen Massenmord zu entkommen und in den Vereinigten Staaten eine Zuflucht zu finden; der faschistische Terror kulminiert im Vernichtungskrieg, der jedoch längst auch Amerika bedroht. In dieser Zeit studiert Bernstein in Harvard. 1940 wird er Assistent von Serge Koussevitzky am Tanglewood-Konservatorium. 50 Jahre später entstehen hier die Aufnahmen von Benjamin Brittens »4 Sea Interludes« – zwei Monate vor Bernsteins Tod am 14. Oktober 1990.

1943 wird er Assistent von Artur Odzinski bei den New Yorker Philharmonikern. Im November 1943 springt er für den erkrankten Bruno Walter ein – und ist kurze Zeit später einer der führenden Dirigenten Amerikas. 1944 wird seine Erste Sinfonie »Jeremiah« uraufgeführt. Im selben Jahr arbeitet er an seinem ersten Ballett »Fancy Free« und an dem Musical »On the Town«. 1949 folgt die Premiere seiner Zweiten Sinfonie »The Age of Anxiety«, dirigiert von Koussevitzky mit dem Boston Symphony Orchestra und Bernstein am Flügel. Im selben Jahr komponiert er »Prelude, Fugue and Riffs« für Soloklarinette und Jazzensemble. Es folgen die Einakt-Oper »Trouble in Tahiti« und in verschiedenen Fassungen »Candide«. Ferner schreibt er Filmmusiken (»On the Waterfront«, 1954), eine Messe (»Mass«, 1971), Songs (zum Beispiel »Songfest«, 1977), Klavierstücke (etwa: »Touches«, 1981).

»The Joy of Music« und »The Infinite Variety of Music«, die Titel von Bernsteins Büchern, verraten einiges über seine ästhetische Theorie. Er dirigiert so, wie andere später Schallplatten auflegen: Mit kindlicher, aber niemals naiver Spielfreude greift er in die Werke ein, die er interpretiert. Dabei, und das ist bezeichnend für sein Verhältnis zur Musiksprache insgesamt, bewegt er sich jenseits aller überkommenen Stil- und Gattungsgrenzen, wofür seine wohl berühmteste Arbeit mehr als exemplarisch ist: das 1957 uraufgeführte Musical »West Side Story«.

Was der trotzkistische Kunsttheoretiker Clement Greenberg 1939 unter dem Titel »Avantgarde und Kitsch« beschreibt, bezeichnet hervorragend die Konstellation einer Kultur, aus der die »West Side Story« hervorgeht. Sie klingt wie ein musikalisches Modell zur Chicagoer Schule der Soziologen Wirth und Park, die mit ihren Untersuchungen der Ghettojugend die Verfahren teilnehmender Beobachtung entwickelten: Jets gegen Sharks, Romeo und Julia inmitten der Ghettos, das triste Alltagsleben gebrochen durch Jazzelemente, eine an Offenbach erinnernde Opéra comique, Singspiel und lateinamerikanische Rhythmen, wie etwa bei »America« (das dann rockmusikalisch von der Artrockband The Nice adaptiert wurde und zum Protestsong gegen den Vietnamkrieg verfremdet wurde). Und immer wieder erklingen hier die für die gesamte amerikanische Moderne so typischen Schichtklänge und weiträumigen Satzstrukturen (man hört sie schließlich später auch bei der New Yorker Rockavantgarde von Glenn Branca und Sonic Youth).

Teilnehmende Beobachtung ist auch die Haltung, mit der sich Bernstein der europäischen Musiktradition annähert. Er betritt das 19. Jahrhundert mit Gustav Mahler. Mit seinen Interpretationen der Mahler-Sinfonien beginnt Anfang der Sechziger die Mahler-Renaissance. Später erklärt Bernstein: »Erst jetzt, nachdem wir nahezu alles durchgemacht haben, die rauchenden Schlote von Auschwitz, die unsinnigen Bombardements der vietnamesischen Dschungel, die Ermordung Kennedys, den südafrikanischen Rassismus, die arabische Einkreisung Israels, den Rüstungswettlauf, erst jetzt begreifen wir Mahlers Musik, begreifen, dass er alles vorausgesagt hat.«

Die amerikanische Moderne, Mahler und Beethoven, das ist das musikalische System Bernsteins. Durch Mahler kommt er zu Beethoven; von New York geht er nach Wien, wo er Beethoven erstmals 1969 aufführt. Im darauf folgenden Jahr findet in seinem Haus ein Unterstützungstreffen für die Black Panthers statt; und Herbert Marcuse hört zur selben Zeit in Soul und Funk den Widerruf der Neunten Sinfonie.

Von der radikalen amerikanischen Moderne entfernt sich Bernstein allerdings immer mehr und flüchtet sich ins frühe 19. Jahrhundert; Beethovens Musik bleibt der Klang gewordene Weltgeist, die, wie Bernstein sagt, »universelle Sprache, die in den unendlichen Kosmos gesandt wird«, die musikalische Idee des Weltfriedens. Als Künstler bleibt er jedoch revolutionär. Seine Arbeit mit den Wiener Philharmonikern wirkt nach; gegen die bodenständige Echtheit, gegen den Historismus des Originals, wie sie im Einfluss Karajans propagiert wurde, setzt Bernstein eine Authentizität, mit der Geschichte von der Gegenwart aus entschlüsselt wird. So legt er das Unabgegoltene einer Vergangenheit frei, die hinter dem Traditionalismus und der Ideologie der Werktreue verborgen war.

Schwelgerische Klangschönheit, das Auskosten von Details und übertriebene Tempi kennzeichnen einen Humanismus, der in der exzessiven Vermenschlichung der Musik mündet. Bernstein wurde das, etwa bei seinen Sibelius-Interpretationen, als »überzogen«, »sentimental« und »selbstgefällig« angelastet. Doch unüberhörbar entzaubert er jeden romantischen Unterton, stellt die Musik still, um so in die Interpretation den Hörer mit einzuschließen. Manche Stücke, wie etwa Elgars »Enigma«-Variationen, spielt er eineinhalbmal so lang wie andere Dirigenten. Oder er nimmt das musikalische Material als Fundgrube, mixt und sampelt, wie etwa bei Gershwins »Rhapsody in Blue« hörbar, die er auseinander nimmt und neu zusammensetzt.

Von den sechs CDs »The Americans« geben gleich zwei Einblick in das umfangreiche Werk von Bernsteins Freund und Mentor Aaron Copland, eine weitere CD widmet sich ausschließlich Charles Ives. Er gilt als der Begründer der amerikanischen Moderne. Der Autodidakt machte das Urbane zum Leitmotiv der Musik der Gegenwart. Titel wie »Tone Road No. 1« sind programmatisch zu verstehen; »Fireman’s Parade on Main Street« oder das Adagio »Central Park in the Dark« sind dem Leben der Großstadt nachempfundene Alltagsskizzen. Das kurze »Hallowe’en« dagegen ist ein echter Grenzüberschreiter und antizipiert fast schon die Heavy-Metal-Spielart Grindcore.

Leonard Bernstein (Dirigent): Ludwig van Beethoven, »9 Symphonien«, Wiener Philharmoniker, Deutsche Grammophon, 5 CDs

Leonard Bernstein (Dirigent): Johannes Brahms, »Die Symphonien – Orchesterwerke – Konzerte«, Wiener Philharmoniker, Deutsche Grammophon, 5 CDs

Leonard Bernstein (Dirigent): Jean Sibelius, »Symphonien Nr. 1, 2, 5, 7«, Edward Elgar, »Enigma-Variationen«, Benjamin Britten, »Four Sea Interludes«, Wiener Philharmoniker u.a. Deutsche Grammophon, 3 CDs

Leonard Bernstein (Dirigent): »The Americans«: Barber, Bloch, Copland, Foss, Gershwin, Harris, Ives, Rorem Schuman, Del Tredici. Los Angeles Philharmonic Orchestra, Israel Philharmonic Orchestra, New York Philharmonic Orchestra, Deutsche Grammophon, 6 CDs