Down & Out

Hartz IV ist auch in der Soziologie angekommen. Die Zeitschrift Mittelweg 36 widmet den Arbeitslosen ihre neue Ausgabe. von jan süselbeck

Bereits seit 1998 befasst sich die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), Mittelweg 36, mit dem Thema der sozialen Ausgrenzung »Entbehrlicher« und »Überflüssiger«, also mit Menschen, die ihre Firma nicht mehr braucht. Auch die aktuelle Nummer beinhaltet drei neue Beiträge zum Thema. Darin geht es vor allem um den neuen soziologischen Begriff der Exklusion.

Die Schwierigkeit, die wirklichen Folgen staatlicher Maßnahmen wie der Agenda 2010 kritisch zu erfassen, beschäftigt offensichtlich nicht nur die Masse der Ahnungslosen, die jetzt aus purer Angst und Wut gegen Hartz IV auf die Straße geht. Auch die Sozialforschung scheint mit der Beschreibung akut werdender gesellschaftlicher Symptome neoliberaler Reformen ihre liebe Not zu haben.

Einen ersten Einblick in den Forschungsstand liefert der Kasseler Soziologieprofessor Heinz Bude. Demnach herrsche in der klassischen Sozialstrukturanalyse die konservative Meinung vor, »dass sich in der Ordnung sozialer Ungleichheit im letzten halben Nachkriegsjahrhundert eigentlich nichts geändert hat«. Dem jedoch würden die öffentlichen Unmutsbekundungen der Bürger widersprechen, wonach »das soziale Band unter höchster Spannung steht und Zugehörigkeit immer prekärer wird«.

Bedeutet dies nun, dass die Wissenschaft jeden Bezug zur Realität verloren hat? Wer hat Recht, fragt Bude, »die Soziologie oder die Gesellschaft?« Der Begriff der Exklusion soll hier eine neue, bislang kaum berücksichtigte Kategorie in die Untersuchungen einführen: die des sukzessiven Ausschlusses ganzer Bevölkerungsgruppen.

Bude führt die sozialen Wüsten französischer Vorstädte und entvölkerter Gebiete Ostdeutschlands als Beispiel für neue Zonen »sozioökonomischer Marginalisierung, lebenskultureller Entfremdung und sozialräumlicher Isolierung« an. Sie scheinen mit althergebrachten sozialempirischen Modellen nicht mehr erschöpfend zu beschreiben zu sein. Es sind Teile der Gesellschaft, die immer weiter ausgegrenzt werden und so zu »gefährlichen sozialen Klassen« heranwachsen. »Man hat es mit einem Teufelskreis von Benachteiligung und Ausschluss zu tun (…): keine Ausbildung, keine Beschäftigung, kein Einkommen, keine Familie, kein Kredit, keine Achtung.« Die Folge sei vor allem eine wachsende Anfälligkeit für rachsüchtige Demagogie, die eine Gefahr für alle darstelle.

Damit gibt es nicht mehr nur eine gesellschaftliche Differenz zwischen Oben und Unten, sondern auch von Drinnen und Draußen. Der Abbau des Sozialstaats vergrößert, so Bude, die gesellschaflichen Kluften zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, »In-« und »Ausländern« – und nicht zuletzt dem Subjekt und dem Kollektiv: »Die Formel der ›Ich-AG‹ bringt die zeitgenössische Problematik der Exklusion auf den Punkt. Das unternehmerische Selbst soll für diejenigen die Rettung bringen, die in der Gefahr stehen, den Anschluss zu verlieren.«

Das widersprüchliche Rezept, das soziale Aus ausgerechnet durch forciertes Einzelkämpfertum zu verhindern, muss scheitern. Es entsteht das tückische Paradox gleichzeitiger In- und Exklusion. Bude erkennt deshalb im »aktiven Verlierer« den paradigmatischen Typus aktueller gesellschaftlicher Zwangslagen. Nämlich denjenigen, der nicht begreift, was ihm passiert ist, weil er doch glaubte, alles richtig gemacht zu haben: »Er (…) hat die Botschaft von Flexibilisierung und Mobilität ernst genommen, hat sich umschulen lassen, ist umgezogen, hat sich scheiden lassen, um ganz neu anzufangen, und ist trotzdem aus dem Spiel gefallen. Der neue Arbeitgeber hat die dot.com-Krise nicht überlebt, die neue Freundin hat sich wieder von ihm getrennt, für die Arbeitsvermittlung war er ein Fremdkörper, und in der neuen Umgebung hat er keinen neuen sozialen Kontakt gefunden.« »Dumm gelaufen«, sagt man da wohl. Oder: »falsches Timing«!

Oliver Callies vom HIS versucht in seinem Beitrag, die mangelnde Trennschärfe des Exklusionsbegriffs zu kompensieren. Um ihn genauer zu fassen, stellt er drei Paare von Interviewpartnern vor, die in nahezu identischen sozialen Situationen leben, diese jedoch vollkommen anders einschätzen und erleben. Dabei wird noch einmal deutlicher, dass die aktuellen sozialen Umwälzungen im ehemaligen »Wohlfahrtsstaat« neue gesellschaftliche Gräben schaffen, die sich nicht mehr nur in statistischen Angaben wie etwa dem monatlichen Einkommen ausdrücken lassen.

Der Industriearbeiter der fünfziger Jahre erlebte seine Situation zwar auch als auswegslos, fand jedoch Halt in den ausgeprägten kollektiven Organisations- und Solidarisierungsstrukturen, die innerhalb seiner Klasse Bestand hatten. Davon kann, wie Callies in seinem Beitrag herausarbeitet, heute keine Rede mehr sein. Der Marginalisierte ist vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen, und so werden gerade jene familiären Bindungen und lokalen Netzwerke, die die neoliberale Ideologie ihrem absurden Heilsversprechen der »Flexibilität« opfern will, wieder überlebenswichtig.

Callies stellt Heike M. (26) und Andrea F. (25) vor. Beide sind ohne Schulabschluss und Berufsausbildung, von der Heroinsucht geheilt und leben seit Jahren von der Sozialhilfe. Heike M. hat keine familiären Bindungen mehr, hat sich zwar vom Drogenmilieu distanziert, aber danach keine neuen Freunde gefunden. Wegen Geldmangels verlässt sie das Haus kaum noch und schaut fern. Sie sieht sich selbst »auf der untersten Stufe angelangt« und glaubt kaum noch daran, aus ihrer Situation jemals wieder herauskommen zu können. Andrea F. aber ist in den Stadtteil zurückgekehrt, in dem sie aufgewachsen ist, und wohnt wieder in derselben Straße wie ihre Eltern. In ihrer Umgebung wohnen viele Sozialhilfeempfänger, so dass die alltägliche Kommunikation leichter fällt. Man hat dieselben Probleme. Andrea F. erklärt, unter ihrer Arbeitslosigkeit nicht sonderlich zu leiden, und kümmert sich um ihren während der Sucht vernachlässigten sechsjährigen Sohn.

Callies betont, dass die Sozialforschung ihre Exklusionsdefinition um den Einbezug derartiger sozialer Unterschiede zu erweitern habe, die oftmals innerhalb gleicher Klassen verlaufen. Die zunehmende Verschiebung des Kollektivschicksals hin zum Einzelschicksal führe da, wo soziale Netze nicht mehr existieren, zu einer zunehmenden »Reinigung« des öffentlichen Raums. Callies’ Fallgeschichten liefern konkretes Anschauungsmaterial zu Budes Schlusswort: »Die aussortierten und abgehängten Gestalten sollen sich zu ihresgleichen verziehen oder ganz von der Bildfläche verschwinden. (…) In Deutschland ist es nicht das öffentliche Ghetto, sondern es sind die privaten vier Wände, wohin sich die Exkludierten zurückziehen.«

Zuletzt untersucht Berthold Vogel vom HIS und vom Soziologischen Forschungsinstitut (Sofi) an der Georg-August-Universität Göttingen den Wohlfahrtsstaat. Vogel korrigiert die aus dem mittlerweile geplatzten New-Economy-Hype der »Roaring Nineties« herrührende Behauptung, gesetzliche Maßregelungen würden zunehmend zu Gunsten eines »freien Marktes« eingeschränkt. Tatsächlich seien die »Eingriffe des Staats in die Sphäre der Erwerbsarbeit, insbesondere in den Randlagen von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (…) noch nie so mannigfaltig gewesen wie heute«, erinnert Vogel.

Gerade die soziale Peripherie soll nun zu Gunsten steuerlich großzügig begünstigter Konzerne ihre letzten Vermögensbestände aufbrauchen, bevor sie nur noch extrem kurzzeitige, minimale Unterstützungen erhält. Die Outcasts sollen noch mehr arbeiten, immer mehr Jobs annehmen und dafür viel weniger Geld verdienen, während der finanzielle Druck auf die faktisch Arbeitslosen zusätzlich erhöht wird. »Sind das Beispiele für staatlichen Interventionsverzicht? Gewiss nicht«, schreibt Callies.

Vielmehr sei die »Ökonomisierung des Politischen« zum Projekt geworden. »Von einer Konfrontation ›Staat‹ versus ›Markt‹ (…) kann nur schwer die Rede sein. Es sind doch gerade staatliche Agenturen, die intensiv auf die Einführung von Marktprinzipien drängen – in allen Feldern wohlfahrtsstaatlicher Politik und insbesondere in der öffentlichen Verwaltung selbst.« Dadurch sei nun auch die gesellschaftliche Mitte zusehends vom sozialen Abstieg bedroht, den Vogel mit dem Begriff der Vulnerabilität zu umschreiben versucht. Diese allgemeine Bedrohung durch den jederzeit möglichen finanziellen Absturz erzeuge eine »gefühlte« Unsicherheit, die nunmehr von der Forschung mit zu berücksichtigen sei.

Alle drei Beiträge unterstreichen die zunehmende Brüchigkeit sozialer Positionen: Die Ungleichheit wächst, während sich die gesellschaftlichen Selektionsprozesse empfindlich verschärfen. Dass man diese beunruhigenden Befunde mittlerweile nicht nur in linksradikalen Zeitungen, sondern auch in einer so angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift wie dem Mittelweg 36 lesen kann, zeigt an, dass es jetzt wirklich ernst wird. Fragt sich bloß, warum nicht schon längst Revolution ist.

Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 13. Jahrgang, August/September 2004. 9,50 Euro.