Das Ende der Geschichte

Der Umgang mit der Flick-Collection zeigt: Die Berliner Republik entledigt sich ihrer Vergangenheit. von jörg sundermeier

Ein 17jähriger erzählt von der Nazizeit: »Ich glaub’ auf jeden Fall, dass die meisten Leute trotzdem noch gedacht haben, dass zum Beispiel Juden oder so was Menschen sind und so. Aber als Einzelner konnte man sich ja nicht wehren. Als Einzelner konnte man ja nichts machen. Man konnte sagen: Ich finde das schlecht. Dann wurde man eingesperrt und wahrscheinlich danach erschossen.«

Diese Sätze, die das Forschungsprojekt »Tradierung von Geschichtsbewusstsein« der Universität Hannover aufgezeichnet hat, sind nicht das Ergebnis einer Einzelverblödung – es geht hier um einen kollektiven Wahn. Harald Welzer, der Leiter des Projektes, fasst zusammen: »Ich nenne den Vorgang, in dem aus antisemitischen Großeltern und Eltern in den Augen ihrer Kinder und Enkel Widerstandskämpfer werden, ›kumulative Heroisierung‹, und solche ›kumulativen Heroisierungen‹ kommen in 26 der 40 befragten Familien vor, also in knapp zwei Dritteln aller Fälle. Heroisierungsgeschichten machen etwa 15 Prozent aller erzählten Geschichten in den Interviews und Familiengesprächen aus, zusammen mit den Opfergeschichten, die etwa 50 Prozent ausmachen, handeln also zwei Drittel aller erzählten Geschichten davon, dass die Familienangehörigen aus der Zeitzeugengeneration und ihre Verwandten entweder Opfer der NS-Vergangenheit und/oder Helden des alltäglichen Widerstands waren.«

Also gab es seinerzeit kaum Täter. Die wenigen aber wurden allzu hart bestraft – mit den Bombenangriffen auf deutsche Städte, mit sowjetischer Lagerhaft, mit ein bisschen Enteignung, lästiger Befragung und wahrscheinlich sogar mit Care-Paketen. Und immer betraf es »die meisten Leute« gleich mit, Leute, die in den Krieg zogen, Massenerschießungen vornahmen, jüdische Wohnungen plünderten, polnische ZwangsarbeiterInnen auf ihrem Feld arbeiten ließen, auch noch im Volkssturm dienten und für alles nichts konnten, denn sie wurden ja zu ihrem Glück gezwungen.

Seit der Wiedervereinigung ist die Geschichte abgeschlossen, Deutschland findet zusehends zu sich selbst. Wie singt Peter Heppner von der Popgruppe Wolfsheim in seinem Hit »Wir sind wir« zu der Musik von Paul van Dyk? »Wir sind wir! Wir stehen hier! / Aufgeteilt, besiegt und doch, / Schließlich leben wir ja noch.« Der Auftrag des Duos war es, das »Lebensgefühl« der fünfziger Jahre zu beschreiben. Es ist ihnen bestens gelungen. Und es gelingt ihnen für das Jahr 2004 gleich mit. Sie lieben Deutschland, und sie entschulden es: »Wieder Eins in einem Land, / Superreich und abgebrannt. (…) Aufgeteilt, besiegt und doch, / Schließlich gibt es uns ja immer noch.«

Auch das ist nur noch ein Fall von vielen. Oliver Hirschbiegel, der Regisseur des Filmes »Der Untergang«, in welchem Hitler endlich als Mensch zu erleben ist, hat, sagte er der Berliner Zeitung am Samstag, keine Lust mehr auf das Gejammer: »Der vorverurteilende Umgang mit welcher Materie auch immer führt nirgendwohin. In Deutschland wird die Sicht auf das Dritte Reich seit 60 Jahren pädagogisch konditioniert – das führt nur in die Stagnation. Wir müssen jetzt entweder sagen: Schluss damit; das war damals, heute ist heute. Oder aber: Wir begeben uns in dieses Kapitel noch einmal neu hinein. Und gestehen uns ein: Daher kommen wir.«

Wir kommen also alle aus dem Führerbunker. Wir wurden besiegt, wir gingen unter. Nun sind wir wieder da, nicht nur 1954 wurde Deutschland wiedergeboren, nein, 1990 sogar noch mal. Und seine BewohnerInnen sagen mit nicht geringem Stolz, »daher kommen wir«, ja ja, wissen wir, und lassen sich nicht länger dreinreden.

Und das nicht nur im Feuilleton, sondern auch auf der höchsten politischen Ebene – ob am Grab seines Wehrmachtsvaters oder als Gast der Alliierten in der Normandie, stets ist der Kanzler gleich betroffen. Was ihn so traf, war einfach irgendeine Gewalt, irgendein Schock, irgendein Krieg, und es darf nie wieder geschehen. Darin sind sich inzwischen alle einig.

Was aber damals genau geschehen ist, wer wem was angedeihen ließ, das tritt in den Hintergrund. Über die Ausstellung der von NS-ZwangsarbeiterInnen unfreiwillig mitfinanzierten Flick-Collection, die im in solchen Fällen auch nicht besonders zimperlichen Zürich unmöglich war, in Berlin dagegen herzlichst begrüßt wurde, entsetzen sich einige professionelle Mahner, im Grunde aber bleibt es erstaunlich ruhig. Der ehemaligen FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, der man nun wirklich nicht nachsagen kann, dass sie vaterlandslos sei, bereitet all das immerhin Magenschmerzen: »Es fällt mir auf meine alten Tage nicht leicht, noch einmal aufzubegehren. Ich tue es, weil ich die Sorge habe, dass unser Bemühen um einen anständigen Umgang mit unseren Geschichtslasten zu Ende geht. Nicht nur im Fall der Flick-Collection. Weil ich befürchte, das die Zeit abläuft, in der wir im biblischen Sinne bemüht waren, ›mit Tränen zu säen, um mit Freuden zu ernten‹. Weil ich ahne, dass die Zeit der Entsorgung dieser Lasten und des Vergessens der Opfer anbrechen könnte. Wenn wir nicht wachsam sind.«

Ihre Invektive ist redlich, doch trifft sie den Punkt nicht. Die Stadt und das Land, in der ein rot-roter Senat, ein rot-grünes Bundeskabinett, ein sozialdemokratischer Bürgermeister und ein sozialdemokratischer Kanzler einen Friedrich Christian Flick begrüßen, dessen ererbtes Vermögen ihm »nicht nur Freude« (Manager Magazin) bereitet, dessen er sich jedoch auch nicht schämt, dieselbe Stadt, dasselbe Land geben jährlich schon ein paar Millionen für so genannte »Erinnerungsarbeit« und Gedenkstätten aus, in die die »Geschichtslasten« verbannt sind. Das »Wachsamsein« wird aus der Portokasse bezahlt, seit einigen Jahren sogar beinahe gern. Denn es hilft, sich der Vergangenheit zu entledigen, die Geschichte zu beenden, es hilft auch dabei, Hitler ganz unverschämt als gebrochenen Mann betrachten zu dürfen.

Zugleich darf Deutschland sich in die Reihen der Alliierten im Kampf um die Menschenrechte und gegen ein »neues Auschwitz« einreihen und kann darauf zählen, dass Volkswagen, Deutsche Bank, Degussa, Siemens und auch der mittelgroße Landwirtschaftsbetrieb aus dem Siegerland bald nicht mehr daran erinnert werden, wem sie den Grundstock für ihren Reichtum, ihren Erfolg und ihre »gute Performance« geraubt haben. Dass Flick mit seiner billig erkauften Kunst als toller Mäzen empfangen wird, obschon er bis heute jeden ebenfalls nur billigen symbolischen Beitrag zur Zwangsarbeiterentschädigung verweigert hat, ist eklig; eklig ist aber auch der Großteil der Putzmittel, Glühlampen, EC-Karten und all der anderen Dinge, mit der sich der und die Deutsche täglich umgeben und die ebenfalls von Nutznießern der SklavenarbeiterInnen stammen.

Insofern hat es, bei aller Freude, dass es einem Flick nicht allzu einfach gemacht wird, die Geschichte seines Vermögens zu ignorieren, etwas außerordentlich Trauriges, wenn man sieht, wie wirkungslos die wenigen Proteste gegen die Ausstellung sind. Der Umstand, dass nach dem Krieg von den Westalliierten keine großen Enteignungen vorgenommen wurden, ist bedauerlich, doch nicht zu ändern. Am kommenden Dienstag, bei der Ausstellungseröffnung, werden Berliner Prominente vielleicht an protestierenden ZwangsarbeiterInnen vorbeischreiten müssen, sie werden beklommen sein, doch nicht aus Scham.

Die »Unverbesserlichen«, wie man früher immer im Elternton die Altnazis nannte, sind heute jene, die nicht zulassen wollen, dass die Geschichte vorbei ist. Heute ist heute, wir sind wir, Deutschland hat sich seiner Geschichte gestellt und entledigt. Was »Juden oder so was«, also die Opfer und ihre Nachfahren, dazu sagen, schert keine Sau.