Onkel Hitler

Der Film »Der Untergang« erteilt neun Lektionen für einen moderneren Umgang mit dem Nationalsozialismus. von thomas blum

Am Anfang bleibt die Kinoleinwand schwarz, denn von den Worten soll nicht mit Bildern abgelenkt werden. »Ich bin keine Nationalsozialistin gewesen«, sagt eine Frauenstimme. »Ich habe nicht gewusst, was das Schicksal mit mir vorhat.« Vielleicht sei es die Neugier gewesen, die sie getrieben hat.

Es ist die Stimme einer hübschen, jungen Dame mit dem Namen Traudl Junge, die gleich, in der Eröffnungsszene, vom Führer als Sekretärin engagiert wird. Sie kann nicht schnell genug tippen, aber Hitler lässt Fünfe gerade sein und stellt sie trotzdem ein. Da zeigt sich der Führer, wie wir ihn kaum kennen, der Mensch hinter der Maske des Diktators, Onkel Hitler sozusagen. Er rollt das R ein bisschen zu sehr, und er macht seltsam affektierte Bewegungen, doch er ist ein gutmütiger, geduldiger, väterlicher Freund. Lektion 1: Der Führer ist ein mordsmäßig charmanter Kerl gewesen.

Es folgt ein Szenenwechsel. Wir sind im Jahr 1945 und sehen hilflose Menschen im Bunker, Hitler und seine Getreuen. Sie sitzen in der Falle, eingeschlossen, ausweglos, verzweifelt. In wiederholt dazwischengeschnittenen Sequenzen erfahren wir, was sie bedroht: Sie sind umzingelt vom besinnungslos wütenden gesichtslosen Feind, der die Stadt mit seinen Geschützen dem Erdboden gleichmacht und immer näher rückt. Ziellos schlagen Granaten ein. Der Film führt »jenen, die nicht dabei waren, das Grauen des Häuserkampfes in Berlin vor Augen« (Spiegel). Das dem Zuschauer angebotene Identifikationsmuster ist klar und deutlich. Lektion 2: Der Nazi hat’s nicht leicht gehabt am Ende des Krieges, man hat ihm übel mitgespielt.

Es ist ein Inferno, in dem die deutsche Zivilbevölkerung nicht verschont wird, die doch diesen schlimmen Krieg gar nicht will, wenigstens jetzt nicht mehr: Vergeblich appelliert ein deutscher Zivilist an Hitlerjungen, den Abwehrkampf einzustellen. Lektion 3: Die Deutschen wollten das Leid und das Sterben beenden.

Auch die meisten Offiziere und die »Guten« unter den SS-Leuten im Bunker lehnen den Krieg ab, haben die Sinnlosigkeit seiner Fortführung erkannt. Sie ahnen, dass er verloren ist, und können doch Hitlers Wahn nicht brechen. Lektion 4: Hitlers Offiziere waren stille Widerständler, konnten sich aber nicht durchsetzen.

Nur einige wenige Fanatiker wollen diesen Krieg fortsetzen, vor allem einer, der böse, niederträchtige Führer. Bisweilen fuchtelt und brüllt er, ist zornig und aufbrausend, doch er ist auch ein verbitterter, gebrochener, alter Mann. Auch er ist nur, wie wir sehen, ein Opfer seiner selbst, ein von seinem Willen Getriebener, er kann nun mal nicht anders und muss die Sache jetzt zu Ende bringen. Er wollte nur das Beste für sein Volk, dem er vertraut hat und das ihn jetzt so bitter enttäuscht. Lektion 5: Der Führer konnte nicht anders. A man’s got to do what a man’s got to do.

Und wir verstehen auch die Traudl, unsere Identifikationsfigur, die »im Film für die schweigend verstrickte Mehrheit der Deutschen steht« (Tip) und die in einem Plausch mit Eva Braun sagt: »Der Führer ist so ein fürsorglicher Mann, aber dass er immer so brutal reden muss.« Warum tut er nur immerfort so brutal daherreden? Da musste es ja irgendwann dazu kommen, dass die anderen Länder böse auf ihn werden. Dabei ist der Führer auch nur ein Mensch mit Gefühlen, ein Mensch wie du und ich, was man auch daran sieht, dass er sogar zwei Mal weinen muss im Film. Auch Joseph Goebbels muss einmal heftig schluchzen, weil Hitler gerade ihm, dem Treuesten der Treuen, angeboten hat zu fliehen, wo er doch bis zum Ende bei seinem Führer bleiben will. Beide gehen am Ende gefasst für ihre Idee in den Tod, aufrecht, stolz, heldenmütig. Lektion 6: Der Nazi hat ein Ehrgefühl.

Anstatt die Person Hitler zu entmythisieren, wird sie hier in einer Mischform aus mysteriösem, dämonischen Held und liebenswürdigem Onkel von nebenan inszeniert und derart neu mythisiert. Was wir sehen auf der Leinwand, ist Geschichte als Groschenromanverfilmung. Man hat es hier mit einem obszönen Machwerk zu tun, einer durchweg schmierigen, gefühligen Farce, die beim Betrachter Mitleid wecken will für die hilflos dem verrückten Führer und einigen seiner Getreuen ausgelieferten Deutschen. Können nicht wenigstens Goebbels’ süße Kinder gerettet werden? Wo bleibt Hitlers Reservearmee, die der Roten Armee den entscheidenden Schlag versetzt? Und wir sehen deutsche Zivilisten im Luftschutzkeller, gebrochen, hungrig, verwundet. Ja, sie haben weiß Gott schon genug durchgemacht.

Und als ob es noch eines letzten Beweises dafür bedurft hätte, wem die Sympathie gilt in diesem Film, wird noch eins draufgesetzt. Eine der letzten Szenen zeigt die aus dem Führerbunker geflohene Traudl Junge an der Seite kapitulierender Wehrmachtssoldaten, von denen ihr einer den Rat gibt, den Russen nicht in die Augen zu schauen. An einer Horde inmitten des verwüsteten Berlins singender und tanzender Sowjets vorbei, an ihrer Hand ein blondes Kind, geht sie mit gesenktem Blick durch die Reihen der Sieger. Entgegen dem Rat, der ihr gegeben wurde, schaut sie einmal mit ihren großen Bambiaugen auf zu einem Sowjetsoldaten, der vor ihr steht, und wir sehen mit ihrem Blick zum ersten Mal in diesem Film in Großaufnahme das Gesicht eines Rotarmisten. Die getragene, pathetische Filmmusik wird kurz von einem scharfen Klang unterbrochen, und dazu betrachten wir die Visage eines angetrunkenen Glatzkopfs mit einer Miene, die changiert zwischen Debilität, Feindseligkeit und animalischer Triebhaftigkeit. So sieht der Befreier aus. Und das haben wir uns auch schon gedacht, dass er, wenn er ins Bild kommt, exakt so ausschaut, wie das kollektive Gedächtnis der Generation unserer Nazieltern und -großeltern ihn uns überliefert hat. Lektion 7: Der Russe, ein Untermensch, hat Deutschland besetzt, nicht befreit.

Die Schlussszene zeigt eine lächelnde, durch die Natur radelnde junge Frau.

Hitlers Sekretärin ist frei. Beinahe wäre sie, nach all ihrer schweren, turbulenten Zeit im Führerbunker, noch dem Russen in die Hände gefallen.

Am Ende erhalten wir die Information, dass der zweite Weltkrieg 50 Millionen Menschenleben forderte. Der Hinweis, dass in deutschen Konzentrationslagern sechs Millionen Juden ums Leben kamen, kommt kurz danach. Der Holocaust, soll das wohl heißen, war eine unangenehme Begleiterscheinung des Kriegsgeschehens, in dessen Folge alle Beteiligten ihre Toten zu beklagen hatten. Lektion 8: Die Getöteten der Shoah, sie waren nur sechs Millionen von 50 Millionen, eine Nebenwirkung des Kriegs, eine Randnotiz, eine Fußnote.

Es folgt der Abspann, der wie zum Hohn unterbrochen wird, um in einem kurzen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm »Im toten Winkel« der echten, wahrhaftigen, vor zwei Jahren verstorbenen Traudl Junge das Schlusswort zu überlassen. Von »Andersrassigen« spricht sie noch immer, wenn sie von den Juden spricht, denn altes Wissen rostet nicht, und davon, dass sie von den nationalsozialistischen Verbrechen nichts gewusst habe. An die gleichaltrige Sophie Scholl habe sie einmal gedacht und daran, dass man auch anders hätte handeln können. Aber man hat ja nicht anders handeln können. Lektion 9: Es gab hilflose, unschuldige, naive Nazis, die in diese unangenehme Nazigeschichte verwickelt wurden.

Keiner hat gewusst, was das Schicksal mit ihm vorhat. Die Ermordung der europäischen Juden und der zweite Weltkrieg, sie waren das Werk von vom Schicksal getriebenen Neugierigen, die davor und danach von nichts gewusst haben, eines erstaunlicherweise jedoch bis heute ganz genau wissen: dass sie als Täter mehr gelitten haben als ihre Opfer. Immer und immer wieder müssen sie das bekräftigen, mit Büchern, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen, so lange, bis es ihnen auch die Nachkommen ihrer Opfer glauben.

Das Drehbuch des Films basiert auf den autobiografischen Aufzeichnungen Traudl Junges, die noch vor wenigen Jahren von Hitler als ihrem »angenehmsten Chef« sprach und die Zeit bei ihm eine der »schönsten meines Lebens« nennt. »Wir Mitarbeiter Hitlers waren wie eine große Familie.«

Der Untergang (D 2004), Regie: Oliver Hirschbiegel, Darsteller: Bruno Ganz, Alexandra Maria Lara, Corinna Harfouch, Ulrich Matthes, Juliane Köhler, Heino Ferch u.a. Start: 16. September