Auf dem Sprung
Wer einmal in Casablanca gewesen ist, der wird wissen, wie wenig die marokkanische Metropole mit dem Eindruck zu tun hat, den der Film »Casablanca« vermittelt. 700 Kilometer südlich von Casablanca aber, in Sidi Ifni, kann man etwas von der kolonialen Tristesse, der Atmosphäre gewordenen Vergeblichkeit und Redundanz und der nostalgischen Schläfrigkeit empfinden, die das Film-Casablanca ausstrahlt. Vielleicht liegt es nur am Flugplatz, der zwischen dem neuen Hafen und dem Stadtzentrum liegt, vielleicht daran, dass er viel zu groß für die kleine Stadt erscheint und längst stillgelegt wurde. Doch hinter dem Klischee, das müde, melancholische Europäer, von denen man einige in der Stadt findet, hier sehen mögen, verbirgt sich ein Stück Gegenwart der marokkanischen Provinz.
Sidi Ifni ist ein kleines verschlafenes Nest mit 25 000 Einwohnern im Süden Marokkos. Geographisch gehört es zur Region des Souss-Tales, das sich zwischen den Gebirgszügen des Atlas und Antiatlas erstreckt, aber die Menschen in Ifni sind anders als die Berber-Bevölkerung der Umgebung. »Früher hatten wir zwei Kinos und 100 000 Einwohner«, sagt Omar, »und an jeder Ecke eine Kneipe, heute ist hier nichts mehr los.« Omar arbeitet im lokalen Haus der Jugend als Erzieher. Er spricht fließend spanisch, er hat es in der Schule gelernt, vor 40 Jahren, als Ifni noch das Zentrum der spanischen Saharakolonie war. Damals waren 60 Prozent der Einwohner Spanier, und auch die marokkanischen Kinder mussten in die Kirche.
Omar redet nostalgisch über eine Zeit, die er nur als Kind erlebt hat. Die Stadt, die 1969 König Hassan II. mit Unterstützung der Uno dem General Franco abtrotzte, macht den Eindruck, als habe sie sich nie ganz entschieden, wenn es um die Frage ihrer Zugehörigkeit geht. Das Haus der Jugend ist in einer ehemaligen Lagerhalle der spanischen Armee untergebracht, das alte Stadtzentrum mit Rathaus und Sitz des Pascha steht neben dem verlassenen spanischen Konsulat und der alten Kirche. Die Briefkästen am Postamt tragen noch immer die spanische Aufschrift »Correos«. Seit einigen Jahren leben keine Spanier mehr in Sidi Ifni, das nächste EU-Konsulat liegt in Agadir. Doch zumindest eine Direktverbindung nach Spanien existiert noch. Im Atlantik vor Ifni, 38 Stunden mit dem Schlauchboot entfernt, liegt die kanarische Insel Lanzarote, Spanien, Europäische Union. Sidi Ifni ist ein Ausgangspunkt der klandestinen Migration.
Wir spazieren vom alten Stadtzentrum hinunter in das Flusstal, das die alte von der neuen Stadt trennt, während Omar uns Details der Benachteiligung Ifnis im lokalen Kontext erläutert. Zum Beispiel die Straße. Seit Jahren verspreche die Regierung, die Straße nach Tiznit zu verbessern, zur Nationalstraße zu machen, doch bisher sei nichts passiert. Oder der Hafen. Zwar sei er inzwischen fertig gebaut, aber die großen Schiffe seien nicht gekommen.
Dabei geht es nicht bloß um Lokalpatriotismus. Dem paranoiden Regime Hassans II. galt Ifni mit seiner hybriden Bevölkerung als Quell von Illoyalität und Infiltration. Das größere Ifni wurde so 1969 dem kleineren Tiznit und der gleichnamigen Provinz untergeordnet und sich ansonsten weithin selbst überlassen. Auf der anderen Seite der Stadt, im Neubauviertel, das von einer schmucken Moschee und den typischen marokkanischen Sozialbauten geprägt ist, bringt uns Omar zu einem Laden. Dort reparieren Hassan und Achdani, beide Anfang 20, alte Polstermöbel und Sofas. Außerdem spielt Hassan Gitarre, und Achdani meint, wir sollten uns das anhören.
Hassan kann alles, Reggae ebenso wie spanische Folklore, Rai und Berber-Musik. Beide spielen in einer Band, sie proben im Jugendhaus. Omar hat uns hergebracht, weil wir etwas über Migration wissen wollen. Die beiden haben ihre Erfahrungen gemacht und erzählen gerne. »Du musst wissen, dass wir alle hier mindestens darüber nachgedacht haben. Wenn du 17 bist in Sidi Ifni, dann willst du nur weg, dorthin, wo die Party ist, denn eines ist sicher, hier ist sie nicht«, sagt Achdani.
Und dann erzählt er von seinem ersten Versuch. 20 Leute waren sie, umgerechnet 500 Euro sollte jeder mitbringen, sie waren am Strand verabredet, frühmorgens. Die meisten Passagiere kannte er zumindest vom Sehen, fast alle Männer, fast alle unter 25. Nach der langen Fahrt erreichten sie die Küste von Lanzarote im Norden der Insel. Sie gingen an Land und versteckten sich. Doch dann passierte gar nichts, nicht am ersten Tag und nicht am zweiten. Sie bekamen Hunger, gingen zur Straße und liefen direkt in die Hände der Guardia Civil. Achdani erzählt, dass man Glück haben muss. »Entweder du kommst direkt durch zu Bekannten, die schon dort sind, oder zu Spaniern, die Arbeiter brauchen, oder du triffst auf Guardia-Civil-Leute, die jemanden kennen, der Arbeiter braucht. Sonst hast du keine Chance.«
Achdani hatte Pech. Die Guardia brachte sie in das Zentrale Auffang- und Abschiebelager in Las Palmas. Dort werden alle volljährigen Marokkaner gesammelt, bis ein Flugzeug voll wird. Achdani blieb zwei Tage. Im Lager waren außer seinen Landsleuten Menschen aus ganz Westafrika versammelt. Die Kanarischen Inseln liegen lang gestreckt vor der afrikanischen Küste, so dass sie von Sidi Ifni im Norden bis zum 1 500 Kilometer weiter südlich gelegenen mauretanischen Nouadibou in erreichbarer Entfernung für Schlauchboote liegen. Seit an der Straße von Gibraltar die Kontrollen der Guardia Civil mit EU-Mitteln verschärft worden sind, haben sich hier neue Routen in die Festung Europa etabliert. Die vermeintlich weiten und riskanten Strecken sind dabei für die erfahrenen lokalen Fischer nicht sonderlich aufregend.
»Schon immer sind die Fischer mit ihren kleinen Booten bis zu den kanarischen Inseln gefahren, oft haben sie bei mehrtägigen Fangfahrten dort pausiert«, erklärt Hassan. Doch das war vor Schengen. Hassan hatte zunächst versucht, legal nach Europa zu kommen. In Agadir beim französischen Konsulat stellte er einen Visa-Antrag, bezahlte rund 100 Euro und bekam nie eine Begründung der Ablehnung zu hören.
Danach hat er es zweimal mit dem Boot versucht. »Es sind ja keine Fremden, die die Boote organisieren«, erklärt er, »es sind Leute, die man kennt, die wissen, dass man weg will, die auf einen zukommen und fragen, weil sie selbst gehen wollen und das Boot voll sein muss.«
Beim ersten Mal war der Kapitän nicht gekommen, irgendetwas war schief gelaufen. Beim zweiten Mal, einige Monate später, wurde Hassan nach einigen Tagen auf Lanzarote erwischt. Das Abschiebeflugzeug brachte ihn nach Melilla, von dort wurde er nach Nador abgeschoben. Von einem, der vorher mit ihm im Boot war, bekam er später eine E-Mail aus Lanzarote. Er arbeitete in der Tourismusbranche, er hatte es geschafft. »Natürlich ist die Chance gering, aber es gibt sie und deswegen werden es weiter alle versuchen, die hier groß werden. Hier kannst du sonst nur Fischer werden. Aber wenn du jung bist, reicht dir das nicht.«
Vorerst haben beide die Migrationspläne aufgegeben. »Besorgt uns doch mal einen Auftritt bei euch«, sagt Achdani zum Abschied. Auf dem Weg zurück ins Zentrum gehen wir den Strand entlang, der von einheimischen Surfern und Touristen für seine Wellen geschätzt wird. Von hier aus nach Lanzarote, mit einem Schlauchboot, das klingt nach Abenteuer, nach Fun-Sport, der sich vielleicht touristisch vermarkten ließe. Aber natürlich fehlt dabei der wirkliche Kitzel, wenn man einen EU-Pass hat. Das eigentlich Erstaunliche aber ist, dass es die beiden sind, die durch ihre bereitwillige Auskunft, ihre lebendige Schilderung und ihre leuchtenden Augen diese Assoziation ausgelöst haben. Von Zynismus kann keine Rede sein, auch für sie scheint der Migrationsversuch eine Art Abenteuer zu sein. Wer wagt, gewinnt. Oder eben auch nicht.
Der »Festung Europa« ein Schnippchen zu schlagen, das haben in Ifni nicht alle nötig. Wie in jeder marokkanischen Stadt gibt es transnationale Familien mit einem Standbein in Europa und einem in Afrika. In Sidi Ifni mit seiner jüngeren kolonialen Vergangenheit gibt es sogar überdurchschnittlich viele. Im Sommer kommen Tausende dieser längst in Europa etablierten Migranten zurück. Sie besuchen ihre Familien, bauen an den Häusern weiter, die sie als Alterssitz eingeplant haben, oder machen Urlaub. Die Migranten erwirtschaften in Europa einen erheblichen Teil der Deviseneinkünfte Marokkos. Ihre Transfers gleichen zumindest teilweise das Außenhandelsdefizit des Staates aus. Die basisnahe Distribution der Transfers, die anders als beispielsweise Rohstoffeinnahmen am Staat vorbei direkt in private Haushalte fließen, wird von Globalisierungsexperten wie der amerikanischen Soziologin Saskia Sassen als zentral für die Entwicklung der peripheren Ökonomien angesehen.
Doch vor Ort treten andere Aspekte in den Vordergrund. »Im Sommer ist wirklich was los hier«, erzählt Khaled, »und alle wollen zeigen, wie weit sie es gebracht haben.« Khaled gehört selber einer transnationalen Familie an. Die Familienzusammenführung ist seit dem Ende der Anwerbung von Arbeitskräften zur maßgeblichen Art der regulären Immigration nach Europa geworden. Auch er könnte jederzeit einen Wohnsitz in der französischen Kleinstadt annehmen, in der sein Vater und zwei seiner Schwestern leben. Aber Khaled will nicht nach Europa, es gefällt ihm einfach nicht. Deswegen lebt er in Ifni und studiert in Agadir.
»Die Leute, die zurückkommen, haben immer große Autos und teure Sachen an, aber sie reden nicht«, sagt er. »Alles, was ihnen wichtig ist, ist der äußere Eindruck. Würden sie anfangen zu erzählen, was sie auf sich genommen haben, anstatt immer nur ihren materiellen Reichtum herzuzeigen, viele würden nicht mehr nach Europa wollen.« Für ihn ist Europa kein Paradies, keine Chiffre für das Ende von Langeweile, Frust und Perspektivlosigkeit, es ist schlicht eine andere Realität, geprägt vom schlechten Wetter und der schlechten Laune der Europäer. Die Jungen hier müssten nur mal verstehen, wie es ist, nicht zuhause zu sein, in einem Land, wo man sich fremd fühlt und von den Einheimischen als fremd betrachtet wird, argumentiert er. »Sie wollen nach Europa, weil dort angeblich alles anders ist, aber nachher sind sie wieder nur in der Provinz und arbeitslos, und um sie herum gibt es nur Marokkaner, weil sie sich mit den Franzosen nicht verstehen.« Nichts habe die Realität dort mit dem Traum zu tun, der sie treibt.
Nourdin, ein Bekannter Khaleds, setzt sich zu uns. Khaled stellt ihn vor. Er ist 32 Jahre alt, hat ein Diplom in französischer Literatur in Agadir gemacht. Nourdin hat anders als Khaled keine Chance, auf legalem Wege nach Europa zu kommen, aber auch er will nicht dorthin. Die Vorstellung, dass in Sidi Ifni mal wieder ein Kino eröffnet, dass die Stadt sich vergrößert, ist ihm lieber als der Traum von einem Europa, der doch nur enttäuschen kann. »Aber das liegt vielleicht an meinem Alter«, sagt er, »nur die Jungen haben diese Energie, das zu machen.«
Nourdin arbeitet als Funktionär des Erziehungsministeriums, außerdem hat er einen Verein für ein freies Theater gegründet. »Ich habe zwei Jahre lang keinen Job gehabt nach dem Studium, wie eigentlich alle meine Kommilitonen«, erzählt er. »Ich habe als Fischer gearbeitet. Ich konnte den Fischen Baudelaire-Gedichte rezitieren.«
Er hat schließlich seinen Job erhalten, weil er Stress gemacht hat. Seit über zehn Jahren hat die Vereinigung arbeitsloser Akademiker durch gut organisierte Proteste immer wieder für viele Studienabgänger Jobs erkämpft. König Hassan II. hat noch bis in die Mitte der neunziger Jahre auf Proteste mit Gefängnisstrafen und teilweise brutaler Repression geantwortet, doch der neue König Mohammed V. setzt lieber auf Zuckerbrot als auf die Peitsche. »Es ist einfach, immer zu sagen, es seien die Bilder aus dem Fernsehen, das die jungen Leute treibt, oder die materiellen Reichtümer der Remigranten. Wir konsumieren die Globalisierung hier genauso wie in Europa. Ob nun Cola oder Mercedes, Fernsehen oder Computerspiele, der Konsum ist langweilig. Was die Leute in die Schlauchboote treibt, ist das Bedürfnis, aktiv an der Globalisierung teilzuhaben, Produzent zu werden.«
Mit seinem Theaterverein versucht Nourdin, dem Bedürfnis der Jugendlichen nach Produktion und Ausdruck nachzukommen. Ob seine Schüler seine Einschätzung wirklich teilen, bleibt fraglich. Der offizielle marokkanische Diskurs, an dem auch die vielen Vereine der Zivilgesellschaft in einem klar abgesteckten Rahmen teilhaben können, behandelt die klandestine Migration vor allem als Risiko und warnt vor den gefährlichen und teilweise tödlichen Folgen. Und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese Rhetorik eher kontraproduktiv wirkt.
Nicht zuletzt bleibt es das Interesse des marokkanischen Staates, den immensen Bevölkerungsdruck einer jungen Gesellschaft durch Emigration abzubauen. Der schlichten makropolitischen Logik der Migration nach Europa kann sich denn auch niemand hier entziehen. »Natürlich haben wir viele, viele junge Leute in Marokko, und in Europa gibt es viel zu wenig«, sagt Nourdin. Er erzählt eine Anekdote von einem alten Mann, der sich die Telefonsex-Werbung im europäischen Fernsehen als Maßnahme der Regierungen erklärte, die Menschen zur Produktion von mehr Kindern zu animieren. »Dass in Europa der Nachwuchs fehlt, das wissen hier alle. Aber diesen Ausgleich kann man nicht durch Schlauchbootfahrten herstellen. Europa muss sich öffnen, in den Köpfen und an den Grenzen. Und wir müssen hier mehr Abenteuer suchen, zum Beispiel im Protest gegen die Regierung.«
Später schauen wir uns zusammen den Film »Casablanca« an. Nourdin und Khaled kennen ihn nicht, und Omar hat nur davon gehört. An Ifni erinnert sie dabei nichts, aber am Ende müssen sie lachen: »Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen! Daran hat sich nichts geändert«, sagen sie.