Ewige Probefahrt

Die Arbeiten des in Mexiko lebenden Künstlers Francis Alÿs handeln von einem anderen Umgang mit der Zeit. von heike runge

Im Roadmovie wird zwar andauernd gefahren, aber eigentlich geht es mehr um den Stillstand als um das Ankommen. In »The Rehearsal 1« hat der Videokünstler Francis Alÿs diese Idee des Genres auf die Spitze getrieben. Seine DVD-Bild-Klang-Projektion, die derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist und das Herzstück der Ausstellung über den in Mexiko lebenden Künstler ist, zeigt, wie ein VW-Käfer versucht, eine steile Sandpiste hochzufahren und dabei immer wieder zurückrollt. Dazu läuft laut traditionelle Musik, ein fröhlicher, leicht stotternder und heftig schmachtender danzon. Im Rhythmus der Musik prescht der rote Käfer los, verliert bald an Schwung, wird langsam, stockt und rollt wieder abwärts. Es wird eine Menge Staub aufgewirbelt; ein paar streunende Hunde fühlen sich durch das Fahrzeug gestört und bellen mal kurz auf; mehr passiert nicht.

Protagonist des Videos ist der VW-Käfer, der allein schon wegen seiner signalroten Farbe im ansonsten staubig-verwaschenen Ambiente des ärmlichen Viertels zum Artefakt wird und merkwürdig künstlich erscheint. Der Volkswagen, der in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre zum Motor des Wirtschaftswachstums wurde, zur Ikone des Aufschwungs und zum sichtbaren Ausweis der neuen Beweglicheit der deutschen Gesellschaft, schafft nun diese zweite große Herausforderung, die Mexiko heißt, nicht mehr. In Deutschland schrieb er Wirtschafts- und Kulturgeschichte; in Mexiko hat er es nur zu einer Fußnote gebracht. Der letzte Käfer lief 2003 im mexikanischen Puebla vom Band, ohne dass seine Produktion am Zustand der Wirtschaft viel geändert hätte.

Den Schlüssel zu »The Rehearsal« liefert die Musik. Sie stand am Anfang der Produktion von »The Rehearsal« – was übersetzt die »Probe« oder explizit die »Theaterprobe« oder die »Generalprobe« bedeutet – und ersetzt das Drehbuch. Alÿs wandte sich mit einer musikalischen Idee an eine Band in Juchitan im Süden Mexikos und machte Aufnahmen, als die Gruppe das Stück einstudierte. Diese Aufnahme hörte er später im Auto über Kopfhörer während der Performance auf der Sandpiste in einer Siedlung am Rande von Tijuana im Norden Mexikos; die Musik gibt die Choreografie vor und wird zum Story-Board des Films – außerdem ist die Aufnahme später für den Zuschauer zu hören. Wenn die Saxophonspieler das Tempo drosseln oder das Stück abbrechen, wird der Wagen langsamer oder fällt zurück.

Die Grundstimmung des Videos wird von der Musik vermittelt; sie ist durch und durch optimistisch, nimmt regelmäßig sogar Anläufe in Richtung Glück, aber vertrödelt sich dabei auch genauso regelmäßig wieder. Im Mambo-Vorläufer danzon kommt es mehr auf das Schmachten an als auf die Wunscherfüllung, mehr auf den Prozess als auf das Ziel. Im Kontext des Videos verweist die ständige Wiederholung auf eine Erzählung, deren Fortgang immer wieder aufgeschoben wird.

»Die hypnotische Wirkung der Wiederholung in ›The Rehearsal‹ zeigt sich vor allem an der ›Verkehrung‹ von Bild und Ton«, schreibt Hubert Beck im Katalog. »Die Zeitlichkeit der Musik macht nämlich auf einen fundamentalen Unterschied aufmerksam. Während wir im Raum immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren können, wie es der Käfer demonstriert, ist dies in der Zeit nicht möglich (…) Nam June Paik, der nach Deutschland gekommen war, um bei Karl Heinz Stockhausen elektronische Musik zu studieren, und zu einem ›Pionier‹ der Video-Kunst wurde, hat seine Einsichten über das Phänomen der Zeit in einem einfachen Satz zusammengefasst: Das Leben hat keinen Rückspulknopf.«

Zeiterfahrung in der mexikanischen Gesellschaft ist das eigentliche große Thema, dessen sich Alÿs in »The Rehearsal« angenommen hat, um es ohne überhebliche Ironie zu verhandeln. Das Video versucht, eine nicht-lineare Zeitstruktur nachzuzeichnen und diesem anderen Umgang mit der Zeit eine eigene Wertschätzung entgegenzubringen. Für den aus Europa stammenden Künstler wird diese andere großzügige Auffassung von Zeit in der mexikanischen Gesellschaft zu einer Metapher für das zwiespältige Verhältnis, das das Land gegenüber der Moderne hat, von der es sich immer wieder inspirieren lässt, doch die nie vollzogen wurde.

Francis Alÿs wurde in Belgien geboren und kam 1985 als frisch gebackener Architekt und Ingenieur in die gerade von einem gewaltigen Erdbeben verwüstete mexikanische Hauptstadt. Ihn beschäftigte, wie eine Stadt mit einem derartigen architektonischen und sozialen Desaster fertig werden konnte. In den rund 20 Jahren, die Alÿs in Mexiko-Stadt lebt, ist ein umfangreiches Werk aus Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien, Performances und Film- und Videoarbeiten entstanden, das zugleich ein aufregendes Porträt der 24-Millionen-Einwohner-Metropole liefert. Es ist der Zustand der beständigen Provisorien in der Stadt, von dem sich Alÿs immer wieder faszinieren lässt.

Die mexikanische Metropole ist keine schrumpfende Stadt, sie ist auf Wachstum programmiert. Viele Neubauten haben deshalb ein als Terrasse dienendes Flachdach, dessen höherer Sinn noch ein anderer ist. Die in den Himmel ragenden Stahlträger künden von den Ambitionen der Bauherren, dem Gebäude irgendwann noch weitere Stockwerke hinzuzufügen und es zum Hochhaus umzurüsten. Es ist dieses Prinzip des Unabgeschlossenen, das Offenhalten einer Situation, das Alÿs zur Signatur seiner künstlerischen Arbeiten gemacht hat.

Außer in Mexiko-Stadt spielen seine Aktionen in Havanna, São Paulo, Stockholm, Venedig, Kopenhagen, Istanbul und Athen. Eigentlich geht es immer um ein rehearsal, darum, Dinge im Selbstversuch auszuprobieren und zu dokumentieren, was genau passiert. In einer Performance marschiert er sieben Tage lang unter dem Einfluss sieben verschiedener Drogen durch die Straßen; beim Durchqueren eines Viertels in São Paulo schleppt er einen löchrigen Farbeimer mit sich, um die Strecke mit einer blauen Tropfspur zu signieren; in seiner »Paradox der Praxis« genannten Performance schiebt er einen großen Eisblock so lange durch die glutheißen Straßen von Mexiko City, bis der Riesenwürfel vollständig geschmolzen ist; für »Re-enactments« trägt er eine geladene 9 mm-Beretta durch die Stadt und stoppt die Zeit, die die Polizei braucht, bis sie ihn aufgreift (es sind zwölf Minuten).

In seiner Arbeit »When Faith Moves Mountains« (2002) spielt – wie auch in »The Rehearsal 1« – ein Berg eine bedeutende Rolle; der Zugang zum Thema ist diesmal aber ein radikal anderer. Hier geschieht etwas Bedeutsames, es geht es um die Produktion eines Ereignisses, zu dessen Schauplatz ein Slum in Lima wurde. Gemeinsam mit einer Gruppe von Bewohnern wird eine riesige Sanddüne, die die Skyline des Viertels definierte, um etwa fünf Zentimeter weiter versetzt. »Manchmal führt es zu nichts, wenn man etwas macht, manchmal führt es zu etwas, wenn man nichts macht«, umschreibt Alÿs seine Idee von künstlerischer Intervention, die von Möglichkeiten handelt. Das Leben ist eben eine Probefahrt.