Moschus und Moscheen

Wenn der »Widerstand« gewinnt: Seit dem Rückzug der US-Truppen regieren in Falluja bewaffnete Mujahedin. Sie haben ein Regime des islamistischen Tugendterrors errichtet. von jörn schulz

Nachdem so viel Blut vergossen wurde und so viele ihr Leben verloren, sollten wir nur Gottes Gesetz in Falluja akzeptieren«, forderte der Geistliche Abdul Qader al-Aloussi. Drei Wochen lang hatten US-Truppen Falluja im April belagert, etwa 800 Irakis waren bei den Bombardierungen und Gefechten gestorben. Anfang Mai aber wurde vereinbart, dass die Marines sich aus der Stadt zurückziehen. Seitdem hat die US-Luftwaffe immer wieder mutmaßliche Stützpunkte islamistischer Terrorgruppen in Falluja bombardiert, die Stadt selbst wurde jedoch dem »Widerstand« überlassen.

Für die Sicherheit in Falluja sollte die Miliz des ehemaligen ba’athistischen Generals Jassim Muhammad Saleh sorgen. Der Journalist Nir Rosen, der Falluja besuchte, fand eine Stadt vor, in der nun nach »Gottes Gesetz« Blut vergossen wurde. Die Mujahedin (Glaubenskämpfer) kontrollierten die Stadt. »Jassims Männer verhafteten die Mujahedin nicht. Es gab Mujahedin in ihren Rängen. Der General selbst war den Führern der Mujahedin verbunden.«

Innerhalb weniger Wochen hatten die Mujahedin ein Regime des islamistischen Tugendterrors errichtet. »Wir werden keine Gnade üben mit jenen, die Gott mit ihrer Schönheit und ihrer Kleidung bekämpfen«, warnte ein in der Stadt ausgehängtes Flugblatt. Die Frauen in Falluja müssen nicht nur den Hijab anlegen, der das Haar verdeckt, sondern auch den Niqab, der das Gesicht verhüllt.

Schon kurz nach dem Abzug der Marines paradierten die Mujahedin mit halbnackten Männern durch die Straßen, die zuvor 80 Peitschenhiebe für Alkoholkonsum erhalten hatten. Die Besitzer verdächig erscheinender Treffpunkte wurden bedroht. »Eines Tages kamen die Kämpfer und forderten mich auf, dauerhaft zu schließen, weil sich junge Männer in meinem Café versammeln«, berichtet Salah Sahi. Die Mujahedin sorgten auch dafür, dass westliche Musik und Filme aus den Geschäften verschwanden und durch das reichhaltige Angebot an islamistischen Predigten und Märtyrervideos ersetzt wurden.

Um die Menschen vollständig nach ihrem Bilde zu formen, bestehen die Mujahedin auch auf einer »Islamisierung« der Frisur. Die Damenfriseure mussten gleich ganz schließen, den Herrenfriseuren wurde geboten, keinen »westlichen« Haarschnitt mehr anzubieten, und Patrouillen der Mujahedin trieben Jugendliche mit zu langem Haar zusammen und schoren sie auf dem Marktplatz.

Nir Rosen berichtet auch von offenbar nicht seltenen religiösen Wahnvorstellungen. Ihm wurde ein in Falluja zirkulierendes Flugblatt gezeigt, das von einer großen, spinnenähnlichen Kreatur berichtet, die in der Umgebung der Stadt Amerikaner verspeist. Von den Leichen getöteter Mujahedin wird behauptet, dass sie nach Moschus duften. »Ich hörte viele solche fantastischen Geschichten. Jemand erzählte mir von einer Kalaschnikow, die vier Stunden ohne Nachladen feuerte.«

Der Prophet Muhammad hatte ausdrücklich betont, dass Gott für ihn keine »Wunder« vollbringen werde, und die sunnitische Theologie enthielt sich weitgehend des Aberglaubens. Der militaristische Mystizismus der Mujahedin von Falluja ist ein Phänomen des modernen Fanatismus, das nicht mit dem Verweis auf die angeblich besonders große Frömmigkeit in der »Stadt der Moscheen« erklärt werden kann.

Der Tugendterror wäre ja auch überflüssig, wenn die Bewohner Fallujas wirklich so begeistert von der Sharia wären, wie die Islamisten behaupten. Die »Islamisierung« ist der kleinste gemeinsame Nenner der in Falluja operierenden bewaffneten Gruppen, die mit dem Verweis auf »Gottes Gesetz« Anpassung und Gefolgschaft erzwingen wollen. Die Mujahedin unterstehen jedoch konkurrierenden Kommandanten, immer wieder kommt es zu gewaltsamen Konflikten. Die Machtverhältnisse sind unklar, einzig die Fraktionen sind identifizierbar.

Ghaith Abdul-Ahad berichtete im britischen Guardian über »viele ehemalige irakische Militärs in Khaki-Uniformen, mit großen Schnurrbärten und Bäuchen« in Falluja. Die Ba’athisten bringen ihr militärisches Know-how in den »Widerstand« ein, nach eigenen Aussagen verfügen sie zudem über umfangreiche Vorräte an Waffen und Munition.

Großen Einfluss haben sunnitische Geistliche. Sie kommandieren einen Teil der Mujahedin und schwören in ihren Freitagspredigten die Bevölkerung auf den »Widerstand« ein. Ihr Verhältnis zu den ausländischen Jihadisten scheint nicht ungetrübt zu sein. Es gibt taktische Differenzen, zudem dürften die Neuankömmlinge eine unerwünschte Konkurrenz sein.

Im Hintergrund agieren so genannte Stammesführer. Sie haben derzeit »viel, viel mehr Einfluss als zuvor«, sagt Saad Iskander von der London School of Economics, da sie häufig die einzigen seien, die der Bevölkerung Schutz bieten können. Die Stammesführer sind in der Regel konservative Muslime, haben aber wenig Sympathien für die islamistische Ideologie, die ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch in Frage stellt.

Vermutlich werden die irakische Regierung und die US-Truppen versuchen, die Stammesführer und einen Teil der Geistlichen aus dem Bündnis der Mujahedin herauszulösen, wenn sie die angekündigte Offensive zur Rückgewinnung des »sunnitischen Dreiecks« beginnen. Auch andere Städte und Stadtteile im Zentralirak werden von den Mujahedin beherrscht, und die Regierung muss die Kontrolle bis zu den für Januar 2005 geplanten Wahlen wieder herstellen. Ende der vergangenen Woche flog die US-Luftwaffe mehrere Angriffe auf Gebäude in Falluja, in denen Anhänger Abu Musab al-Zarqawis vermutet wurden. Zarqawi gilt als der wichtigste Führer der ausländischen Islamisten im Irak. Erstmals seit Mai drangen US-Soldaten wieder nach Falluja vor und griffen einen Checkpoint der Mujahedin an.

Die bisherige Strategie hat die Mujahedin eher gestärkt. Während die »Präzisionsschläge« der Luftwaffe fast immer zivile Opfer fordern, die auch nicht-islamistische Einwohner gegen die Regierung und die US-Truppen aufbringen, wurde der Rückzug der Marines von den Mujahedin als Ermutigung zu weiteren Angriffen gewertet. Wenn nun die Integrationsangebote an reaktionäre und rechtsextreme Kräfte noch einmal ausgeweitet werden, wird das den Trend zu einem autoritären, nationalreligiösen Regime stärken.

Es gibt also Gründe genug, die Politik der irakischen und der US-Regierung zu kritisieren. Die Unterstützung des »Widerstands« ist jedoch bestenfalls ignorant, häufiger aber wohl ein Resultat autoritärer Sehnsüchte. Ein Sieg der Mujahedin würde entweder zu einer Talibanisierung des Irak oder zu einem Bürgerkrieg zwischen den Fraktionen im Bündnis des »Widerstands« führen, das durch die Feindschaft gegen die USA nur notdürftig zusammengehalten wird.