»Ich bin doch kein Bettler«

Eva Fahidi

Die ungarische Jüdin Eva Fahidi musste als 18jährige in dem zum Konzentrationslager Buchenwald gehörenden Außenlager Münchmühle Zwangsarbeit leisten. Dort wurden für den Rüstungsbetrieb Dynamit AG Granaten hergestellt. Friedrich Flick, der Großvater des Kunstsammlers Friedrich Christian Flick, saß im Aufsichtsrat der Dynamit AG. Mit Eva Fahidi sprach Kerstin Eschrich.

Sie wurden im Juni 1944 zusammen mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Debrecen nach Auschwitz deportiert. Nach sechs Wochen bestimmte Sie der KZ-Arzt Josef Mengele zur Zwangsarbeit in Deutschland. Hat Sie das vor dem sicheren Tod gerettet?

Mit Auschwitz kann man überhaupt nichts vergleichen. So ein Ort, wo Menschen planmäßig vergast und verbrannt wurden, war einzigartig auf der ganzen Welt. In dieser Hinsicht ist es richtig zu sagen, solange man arbeiten konnte, etwa in einem Arbeitslager, so lange war man am Leben. Aber das ist keine Entschuldigung. Dass mir mit der Zwangsarbeit etwas Gutes getan wurde, das würde ich niemals sagen.

Wir haben immer gerade so viele Kalorien bekommen, dass wir nicht verhungerten, wir sollten ja arbeiten. Wenn wir zu schwach zur Arbeit geworden wären, dann hätte man uns nach Auschwitz in den Tod geschickt. Wir wären vergast worden. Wenn wir noch einen oder eineinhalb Monate länger Zwangsarbeit geleistet hätten, wäre das unser Los gewesen.

Sie vergleichen in Ihrem Erinnerungsbuch »Meine Münchmühle in Allendorf« die Zwangsarbeit in dem Arbeitslager der Dynamit AG mit der Geschichte von Hänsel und Gretel.

Die Hexe kommt in dem Märchen täglich zu Hänsel und überprüft an einem seiner Finger, ob er bereits dick genug ist, um gefressen zu werden. Auch uns wollte die Dynamit AG nicht umgehend fressen. Wir waren vollkommen ausgetrocknet, erschöpft und ausgezehrt, als wir ankamen, nicht die kräftigen, ausgezeichneten Arbeitskräfte, die man erwartet hatte. Erst wurden wir gefüttert, um arbeitsfähig zu werden. Dann mussten wir Leistung zeigen und arbeiten, arbeiten und noch mal arbeiten. Auf diese Weise sollten wir doch noch gefressen werden.

Was mussten Sie in der Granatenfabrik leisten?

Da wir besonders groß waren, wurden meine Freundin Arniko Friedberg, ich und weitere vier, fünf Frauen ausgewählt, die Granaten zu den Transportbehältern zu schleppen. Ich dachte damals immer: »Die Granaten müssen sehr, sehr schwer sein, mindestens 20 Kilo.« Als ich später Berichte über das Werk gelesen habe, konnte ich nicht glauben, was da stand: eine Granate hat 50 Kilo gewogen. Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, wie wir es geschafft haben, die Granaten hochzuheben. Ich habe doch gerade noch 40 Kilo gewogen. Genau das bedeutet Zwangsarbeit. Man weiß nicht, wie man es tun kann und warum, aber man muss es tun, um zu überleben.

Sie hatten das Glück, Freundinnen zu haben. Eine hat Ihr Leben gerettet, als Sie eines Morgens im Arbeitslager nicht mehr aufstehen und zum Appellplatz gehen konnten.

Das war die Arniko. Und sie erzählt dasselbe über mich. Sie sagt, ich hätte sie gerettet und zum Appellplatz geschleppt. Und ich bin überzeugt, dass sie mich zum Appell geschleppt hat. Ich glaube, es könnte beides wahr sein.

Haben Sie sich schon vorher gekannt?

Wir sind in die gleiche Schule gegangen. Aber ich war älter als sie. Interessanterweise waren wir auch im Ghetto im selben Haus. Sie mit der Mutter und ihrem kleinen Bruder und ich mit meiner Familie. Ich sage immer, sie war eine Rotznase. Sie war drei Jahre jünger als ich, also 16. Man schließt in dem Alter eigentlich doch keine Freundschaften mit Jüngeren.

Nahmen die Freundinnen während Ihrer Zeit in Münchmühle die Stelle Ihrer Familie ein?

Das kann man so sagen, ich war ja ansonsten ganz alleine. Es hat sich schnell ergeben. Wir mussten immer in einer Fünferreihe stehen. Das war bereits in Auschwitz so. Ich war schon dort in einer Fünferreihe mit Arniko.

Von Ihrer Familie sind Sie die Einzige, die die Shoah überlebt hat. Ihr ganzes Leben wurde von Auschwitz und der Zwangsarbeit geprägt.

Im Leben und in der Geschichte gibt es kein »was wäre wenn«, man kann das Geschehene nicht ändern. Ich habe schon oft darüber nachgedacht. Wenn zumindest einer aus meiner Familie überlebt hätte, dann hätte ich ein ganz anderes Leben gehabt. Wenn wenigstens ein einziger, vielleicht meine kleine Schwester, am Leben geblieben wäre, dann wäre ich nicht so völlig alleine gewesen. Aber wenn ich daran denke, dass nicht mal meine Mutter am Leben geblieben ist… Sie war nicht einmal 20 Jahre älter als ich. Sie war 39 Jahre alt. Sie wurde in Auschwitz zusammen mit meiner elfjährigen Schwester von Mengele auf die falsche Seite geschickt. Mein Vater war auch eine Zeitlang in einem Arbeitslager. Er war 49 Jahre alt. Heute ist das doch kein Alter. Zu dieser Zeit waren 49 Jahre schon zu viel, um überleben zu können.

Haben Sie jemals eine Entschädigung für ihre Leiden erhalten?

Das einzige, was wir bekommen haben, sind 2 000 DM. Das Geld haben wir 1990 erhalten, als die deutsche Bank die Dynamit Nobel AG aufgekauft hat. Uns wurde gesagt, dass wir das Geld nicht von der Flick-Gesellschaft bekommen haben, sondern auf Druck der deutschen Gesellschaft von der Bank. 4 000 DM wurden uns eigentlich versprochen, aber auf den Rest warten wir immer noch.

Aber bis dahin haben Sie nichts bekommen? Auch keine Rente vom ungarischen Staat?

Nein, keinen Groschen. Bis zur Wende war es in Ungarn auch nicht unbedingt ratsam, von der Zwangsarbeit zu sprechen. Die kleine Rente von der Jewish Claims Conference kommt auch erst seit fünf Jahren. Wenn die Claims Conference nicht da gewesen wäre, hätten wir bis heute nichts bekommen. Von wem denn, von Flick etwa?

Haben Sie denn von dem Kriegsverbrecher Friedrich Flick eine Entschädigung erwartet?

Erwartet? Nein! Ich habe doch Lebenserfahrung. Niemals hätte ich etwas erwartet. Wir lebten in ganz verschiedenen Welten.

Was halten Sie von der Diskussion um die Ausstellung des Flick-Enkels in Berlin?

Ich finde die Diskussion sehr nützlich. Das ist auch eine Art von Entschädigung.

Die Ausstellung?

Die Ausstellung erst dann, wenn eine Tafel aufgestellt wird, auf der steht, dass diese nur ermöglicht wurde, weil Jüdinnen aus Ungarn Sklavenarbeit geleistet haben. Das sage ich nicht im Spaß, denn was soll ich noch tun. Ich kann mich nicht hinstellen und Geld verlangen. Das will ich ja nicht, ich bin doch kein Bettler.

Hätten Sie gerne eine Einladung zur Eröffnung erhalten?

Ich weiß nicht. Mit dem Bundeskanzler habe ich in Deutschland nichts zu tun. Ich bin nur ein ganz normaler Durchschnittshäftling.

Haben Sie die Hoffnung, dass sich Friedrich Christian Flick gegenüber den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern anders verhält als sein Großvater?

Nein, ich brauche nichts von ihm, er soll tun, was er will. Es geht mich nichts an. Er hat kein Interesse an mir, und ich habe kein Interesse an ihm. Er lebt in einer ganz anderen Welt als ich.