Zwischen den Ruinen
Blagoje Stevic lacht. »Als Steiner das letzte Mal da war, meinte er, wir hätten doch einen wunderbaren Blick von hier oben«, sagt der kräftig gebaute Kosovo-Serbe. Seit 33 Jahren wohnt er am östlichsten Rand des nach internationalem Recht weiterhin zu Serbien-Montenegro gehörenden Protektorats Kosovo. »Auf meine Antwort, davon könnten wir nicht leben – was wir bräuchten, wäre Arbeit, sagte er nur: ›Wir arbeiten daran.‹«
Doch davon ist in Stara Kolonija auch zwei Jahre nach dem Besuch des damaligen Chefs der Übergangsadministration für das Kosovo (Unmik), Michael Steiner, nichts zu spüren. Für die einzigen Einkünfte der fünfköpfigen Familie sorgt Stevics älteste Tochter, die in der örtlichen Ambulanz arbeitet. Rentenzahlungen bekommt er weder von den serbischen Behörden in Belgrad noch von den Autoritäten in Pristina. Und von dem idyllischen Blick aus dem zwischen albanischen und serbischen Bewohnern geteilten Dorf in das östlich des Kosovo gelegene Presevo-Tal allein wird ebenfalls keiner satt.
Dementsprechend verhalten reagiert Stevic auch auf die Stippvisite des Mitte August ernannten dänischen Unmik-Chefs, Soren Jessen-Petersen, der zum Amtsantritt mehrere der im ganzen Land verstreut liegenden Minderheitengebiete besucht. Zwar ist Stara Kolonija von den antiserbischen Ausschreitungen verschont geblieben, bei denen im März 19 Menschen ums Leben kamen und mehr als 4 000 Angehörige von Minderheiten vertrieben wurden. Doch Zeit, den Protektoratsleiter über die sozial angespannte Situation aufzuklären, bleibt Stevic nicht: Ein schneller Händedruck, und schon ist der mit viel Vorschusslorbeeren ausgestattete Flüchtlingsexperte wieder verschwunden – zu Gesprächen mit lokalen Polizeivertretern in der zwei Gehminuten entfernt gelegenen Wache. Die von Stevics Frau eigens für den hochrangigen Besucher vorbereitete kalte Platte bleibt unberührt.
100 Kilometer Luftlinie weiter westlich, am Stadtrand von Pec, kamen die Bewohnerinnen und Bewohner von Goradzdevac nie in die Verlegenheit, höher stehenden Unmik-Offiziellen hausgemachte Wurst und Raki anzubieten. Dabei gäbe es Grund genug für die außerordentlich gut besoldeten Funktionäre in Pristina, der Gemeinde, die zwischen zwei Checkpoints der Nato-geführten Kosovo-Schutztruppe (Kfor) eingezwängt ist, einmal ihre Aufwartung zu machen. Selbst wenn es nur ein symbolischer Akt wäre.
Milisav Dakic stockt die Stimme, als er erzählt, was hier im August 2003 passierte. Wegen der Hitze steht die Tür zum Garten weit offen, die Möglichkeit aber, sich im nahe gelegenen Fluss abzukühlen, wird der 49jährige wohl nie wieder wahrnehmen. Denn damals erschossen am Rand der Gemeinde Unbekannte seinen ältesten Sohn Panta. Die Schüsse von der anderen Seite des Flusses töteten außerdem einen 19jährigen, vier weitere Kinder wurden schwer verletzt. Mehr als ein Jahr nach dem Vorfall, der im Nachhinein wie ein verfrühter Auftakt für die Pogrome im März erscheint, ist die Stelle am Ufer, an der die Kinder sich aufhielten, verwaist. Von den Tätern fehlt bis heute jede Spur.
Auch Pantas jüngerer Bruder spielte damals gemeinsam mit mehreren Dutzend anderen am Ufer. Zwischen den ganz in Schwarz gekleideten Eltern sitzt der Zehnjährige im Wohnzimmer der Familie vor dem Fernseher. An den Bruder erinnert nur noch ein Foto an der Wand, eingerahmt von zwei serbisch-orthodoxen Heiligen.
Seit sechs Monaten habe er nichts mehr von der Unmik-Polizei, die die Ermittlungen im August 2003 übernahm, gehört, beklagt sich der Vater. Und überhaupt sei die Situation zum Verzweifeln. Von den ehemals rund 2300 Bewohnern des kleinen Dorfes sind seit Kriegsende 1999 fast 1 500 nach Serbien oder Montenegro gezogen. Ausflüge in das nur zehn Autominuten entfernte Pec sind seit der ersten Vertreibungswelle durch kosovo-albanische Extremisten im Sommer 1999 ohnehin unmöglich. »Wir leben wie im Gefängnis hier«, klagt Dakic. Lediglich einmal in der Woche fährt ein Bus in den Nordteil von Kosovska Mitrovica – unter Geleitschutz von Kfor-Einheiten.
Tag und Nacht bewachen italienische und rumänische Soldaten die Ein- und Ausfahrt von Gorazdevac, das damit abgeschnitten ist von den Hauptstraßen, die weiter in die Provinzhauptstadt Pristina im Osten oder nach Pec im Westen führen. Wie im Rest des Protektorats mit den zwei Millionen Einwohnern sind stundenlange Stromausfälle an der Tagesordnung. Einige kleine Kioske verkaufen das Notwendige zum Leben, bezahlt wird wie in allen kosovo-serbischen Enklaven und Dörfern mit dem serbischen Dinar, nicht wie sonst im Protektorat mit dem Euro.
»Seit den Schüssen vor einem Jahr hat sich nichts verändert«, schimpft auch Spasoje Kalsinac, der seit über zehn Jahren in Gorazdevac wohnt. Als Mitte März aufgebrachte Kosovo-Albaner in Richtung der Gemeinde mit den verwinkelten Schottergässchen marschierten, verhinderten die italienischen Soldaten am Ortseingang zwar, dass diese sich dem Zentrum nähern konnten. »Meine Tochter kam grün und blau vor Angst zurück«, erzählt jedoch der 61jährige, der sich auf die Hilfe der Nato-Truppe nur bedingt verlassen will. »So lange wir hier Äxte und Holzgabeln haben, werden wir uns verteidigen.«
Das war im Zentrum der Altstadt von Prizren, das nur anderthalb Autostunden südlich von Pec liegt, schon nicht mehr möglich, als am frühen Abend des 17. März Hunderte von Kosovo-Albanern vor den Bischofssitz zogen. Erst in letzter Minute gelang es den oberhalb der St. Georg-Kathedrale lebenden Kosovo-Serben, die Flucht zu ergreifen. Weil die hier stationierten deutschen Kfor-Soldaten nach kurzer Zeit den Rückzug antraten, kam der im Priesterseminar gegenüber untergebrachte 61jährige Dragan Nedeljjkovic ums Leben – ein Fall, der momentan den Verteidigungsausschuss des Bundestags beschäftigt.
Erst vier Tage nach den schlimmsten Auseinandersetzungen seit Abzug serbischer Polizei- und jugoslawischer Armeeeinheiten im Sommer 1999 ließen sich Bundeswehrsoldaten wieder am Ort des Geschehens blicken. »Tod den Serben« und »Nieder mit Unmik« hatten die Randalierer in der Zwischenzeit an die Wände der Kirche geschmiert, an einer Säule im Innenraum prangte ein Hakenkreuz. Zur Verteidigung führte ein Oberleutnant damals an: »Die Entscheidung des zuständigen Befehlshabers, keine Menschenleben zum Schutz eines unbewohnten Objekts aufs Spiel zu setzen, war richtig.« Und das, nachdem nur 80 Meter entfernt ein Mann in den Flammen umgekommen war.
Die Graffiti sind mittlerweile übertüncht, ansonsten steht die einst prächtige, vor mehr als 500 Jahren gebaute Kirche ebenso verlassen da wie im März. Einziger Unterschied: Mehrere Reihen Stacheldraht verhindern heute den Zugang zu dem Gebäude, das dem Mob bei den Ausschreitungen völlig ungeschützt in die Hände fiel. Selbst die tonnenschwere Glocke ließen sie mitgehen.
Wie zum Hohn heißt es dort jetzt auf einem Schild, das mit den Logos von Unmik und dem Kosovo Police Service versehen ist: »Jede Form von Vandalismus oder Brandschatzung wird als äußerst schwere Straftat behandelt.« Mehr als zwei Dutzend Häuser serbischer Bewohner gingen bei den März-Pogromen in der Stadt im Südwesten des Kosovo, die lange wegen ihrer multikulturellen Vielfalt gepriesen wurde, in Flammen auf. Bis heute sind die Fensterhöhlen über der Uferpromenade rußumrandet. Auch die Brandspuren an der kleinen, ebenfalls mitten in der Fußgängerzone gelegenen Kapelle vis-à-vis dem Bischofssitz sind noch immer nicht beseitigt.
Kopfschüttelnd steht Kurtaj Faik vor dem zerstörten Wachpostenhäuschen, in dem die deutschen Kfor-Soldaten eigentlich für den Schutz der Kirche hätten sorgen sollen. »Während frustrierte Jugendliche randaliert haben, lagen die Soldaten in ihren Betten«, sagt der 76jährige Kosovo-Albaner auf serbisch, immer noch voller Wut über die jungen Extremisten, denen jedes Verständnis für die Geschichte des 1455 von den Osmanen eroberten Prizren abgehe. »Das ist unsere Stadt«, wehrt er sich gegen das Herrschaftsdenken der nationalistischen Nachfolger der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK), die schon bei der ersten Vertreibungswelle im Sommer 1999 Andersdenkende auf der kosovo-albanischen Seite brutal marginalisierten. Dutzende Zeugen, die vor Gericht gegen die Extremisten aussagen wollten, kamen seitdem ums Leben.
Auch in Belo Polje haben die Randalierer sich mit einem Grafitto verewigt. »Fuck Serbien«, prangt in großen Lettern auf einer zerstörten Häuserwand an der Einfahrtstraße zu dem Dorf am westlichen Stadtrand von Pec. Ein paar hundert Meter die Straße hoch liegt ein halbes Dutzend Hunde faul vor dem Pfarrhaus, das sechs Monate nach den März-Pogromen wieder renoviert ist. Im Unterschied zum Frühjahr, als die Hunde hier herrenlos zwischen den Ruinen umherstreunten, spielen jetzt vier Männer an einem Tisch vor der provisorischen Unterkunft Domino. Eine weitere Gruppe sitzt um eine riesige Wassermelone herum und genießt in der drückenden Augusthitze das erfrischende Fruchtfleisch.
Normalität allerdings ist in Belo Polje längst nicht wieder eingekehrt. »Wie soll man leben, wenn man nicht einmal unbegleitet zum Einkaufen in die Stadt gehen kann?«, fragt etwa Momcilo Savic. Gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Söhnen floh er am 17. März wie die anderen Bewohner in das nahe gelegene Lager der italienischen Kfor-Soldaten, die eigentlich für die Sicherheit im Westen des Kosovo zuständig sind. Zuvor war eine Gruppe von mehreren hundert Kosovo-Albanern den Hang nach Belo Polje hoch marschiert, um den Ort wie Dutzende andere Siedlungsgebiete der serbischen sowie anderer Minderheiten dem Erdboden gleich zu machen.
Nur mit Schüssen konnten eilends herbeigerufene Unmik-Polizisten Schlimmeres verhindern – ein Kosovo-Albaner kam bei dem Versuch, in die noch nicht evakuierten Häuser einzudringen, ums Leben. Die schlichte, über 500 Jahre alte orthodoxe Kirche sowie zwei Dutzend Wohnhäuser, in denen die rund 300 nach Kriegsende verbliebenen Bewohner untergebracht worden waren, konnten die Polizisten nicht mehr retten. »Sie haben alles zerstört«, sagt der 44jährige Savic resigniert. 40 Tage verbrachte er wie die anderen Flüchtlinge im »Villaggio Italiano« genannten Kfor-Camp. Gemeinsam mit den beiden Söhnen und zehn weiteren Familienvätern bildet er nun die Vorhut zur Organisation der Rückkehr weiterer Bewohner.
Direkt nach dem Beginn der innerhalb von Stunden im ganzen Kosovo einsetzenden Krawalle hatte die Nato ihre Präsenz in dem Protektorat auf über 20 000 Mann aufgestockt. Als Konsequenz aus den antiserbischen Pogromen stellte die Kfor-Führung Anfang August außerdem ein neues Sicherheitskonzept vor, das den Soldaten vor Ort in Krisensituationen ein schnelleres Eingreifen zum Schutz bedrohter Minderheiten ermöglichen soll.
Auch an der steilen Straße, die von Pec nach Belo Polje hochführt, sind die blauen Schilder aufgestellt, die in den von Kosovo-Serben, Roma oder Ashkali bewohnten Gebieten montiert wurden, um bei Anzeichen von Unruhen durch rote ersetzt zu werden. Statt »Attention!« auf Albanisch, Englisch und Serbisch heißt es in solchen Fällen dann: »Do not enter! Kfor ist authorized to use weapons«.
Immerhin sind in Belo Polje die Fassaden der meisten im März systematisch angezündeten Häuser wieder frisch gestrichen, vor Wintereinbruch sollen auch die sanitären Einrichtungen fertig sein, die damals in Flammen aufgingen. Neben den 19 Toten zählten Hilfsorganisationen 900 Verletzte, der Nato-Oberkommandierende für Südeuropa, Gregory Johnson, sprach von »ethnischen Vertreibungen«, und Unmik-Chef Harri Holkeri reichte drei Monate später seinen Rücktritt ein.
Sein Nachfolger Jessen-Petersen hat verkündet, dass die Sicherheit für alle zwei Millionen Bewohner des Uno-Protektorats ganz oben auf seiner Prioritätenliste stehe. Außerdem wurde im August die Einrichtung eines Fonds zur Wiederherstellung der zerstörten Klöster und Kirchen auf dem von orthodoxen Christen als »Wiege der serbischen Kultur« bezeichneten Amselfeld angekündigt. Über vier Millionen Euro sollen zur Rekonstruktion der mehr als 150 religiösen Einrichtungen bereit gestellt werden, die zum Angriffsziel der kosovo-albanischen Randalierer wurden.
Doch nicht nur in Belo Polje ist man skeptisch, ob die Weltorganisation das Vertrauen der rund 100 000 Kosovo-Serben, Roma und Ashkali wiedergewinnen kann. Selbst in der Unmik-Zentrale findet man kaum jemanden, der eine Rückkehr der Minderheiten in relevanter Zahl nach den Ausschreitungen noch für möglich hält. Bereits unmittelbar nach Einzug von Uno-Beamten und Nato-Truppen 1999 hatten extremistische Kosovo-Albaner etwa 180 000 serbische Bewohner vertrieben, die bis heute in Übergangslagern oder bei Verwandten in Serbien und Montenegro untergebracht sind.
Zurückgekehrt ist von den im März Geflohenen bis heute kaum jemand. Und wie in Belo Polje, wo lediglich die Familienväter die Stellung halten, überlegen sich die meisten Flüchtlinge, auf Dauer in Serbien oder Montenegro zu bleiben. Oder sie machen es wie 31 Kosovo-Serben, die damals von Bundeswehreinheiten ins deutsche Kfor-Hauptquartier in Prizren evakuiert wurden, und beharren auf finanzieller Entschädigung für ihre bei den Pogromen in Flammen aufgegangenen Häuser – Rückkehr ungewiss.
Auch Momcilo Savic und seine Familie pendeln immer wieder zwischen Belo Polje und Verwandten in Südserbien hin und her. Den Glauben an ein friedliches Zusammenleben mit der kosovo-albanischen Mehrheitsbevölkerung hat der Familienvater trotz allem nicht verloren: »Wir haben jahrelang zusammen gearbeitet, zusammen gefeiert und diskutiert, warum sollte es dann nicht wieder klappen?«
Wie zum Beweis für die Behauptung kommt ein vor Jahren aus Albanien in das Kosovo gezogener Bekannter vorbei geradelt, der im »Villaggio Italiano« als Übersetzer arbeitet. Herzlich begrüßen sich die beiden und wechseln in einem Kauderwelsch aus Serbisch und Albanisch ein paar Worte. Es sei alles eine mentale Frage, sagt Savic zum Abschied. Was es brauche, damit es mit dem Zusammenleben wieder klappe, sei deshalb einer wie Tito: »Der hat den Leuten einfach ab und an auf den Kopf hauen lassen, wenn sie nicht kapieren wollten. Danach haben sie schon verstanden.«