»Man darf Opfer und Täter nicht vermischen«

Heinrich Fink

In Halbe, südlich von Berlin, fand im April 1945 die letzte Kesselschlacht des Zweiten Weltkriegs statt. Seit der Wende ist der Soldatenfriedhof zur Pilgerstätte von Alt- und Neonazis geworden. Anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom deutschen Faschismus soll am 8. Mai 2005 in Halbe ein Denkmal für Wehrmachtsdeserteure aufgestellt werden. Das fordert unter anderem Professor Heinrich Fink. Er war nach der Wende Rektor der Humboldt-Universität in Berlin und zwischen 1998 und 2002 Bundestagsabgeordneter der PDS. Er ist Bundesvorsitzender des Bundes der Antifaschisten/VVN. Mit ihm sprach Martin Kröger.

Was wollen Sie mit einem Gedenkstein für Desserteure in Halbe erreichen?

Deserteure sind eine Widerstandsgruppe, die in der Öffentlichkeit kaum Beachtung gefunden hat. Für mich sind Deserteure konsequente Antifaschisten, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, indem sie erklärt haben: Wir können bei diesem Krieg nicht mehr mitmachen.

Warum soll dieses Denkmal in Halbe errichten werden und nicht anderswo?

Es gibt inzwischen sehr schöne – wenn man diesen Ausdruck dafür überhaupt benutzen will – Denkmäler für Deserteure in Erfurt zum Beispiel oder auch in Potsdam. Für Halbe ist dies nicht vorgesehen. Halbe ist eigentlich ein Friedhof, der die Summe der Toten des Krieges beherbergt: SS-Leute, Zivilbevölkerung, Zwangsarbeiter und Deserteure.

Gibt es nicht schon heute die Möglichkeit, Deserteuren in Halbe zu gedenken?

Es gibt eine Reihe von Gräbern von Deserteuren, die gekennzeichnet sind, aber da muss man schon suchen. Die Gräber sind auch nicht besonders gepflegt, und daher finde ich den eindeutigen Hinweis, dass in Halbe Deserteure liegen, sehr wichtig.

Die Unrechtsurteile gegen Deserteure aus der Nazizeit wurden erst in der jüngsten Vergangenheit teilweise revidiert. Warum hat dieses Unrecht so lange Bestand gehabt?

Wir haben im Bundestag darüber sehr intensiv diskutiert. Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion haben uns erklärt, dass der Eid, den die Soldaten geschworen haben, nach wie vor Gültigkeit habe und deswegen Soldaten, die desertiert sind, eidbrüchig geworden seien. Das ist eine deutsche Soldatenmentalität, die ich nicht verstehen kann, die aber in der deutschen Bevölkerung offenbar immer noch eine Rolle spielt.

Deserteure als Vaterlandsverräter, daran hat sich bis heute nichts geändert?

Sicherlich hat sich einiges geändert. Die Generation, die selber im Krieg war, brauchte für sich immer die Rechtfertigung, dass Deserteure eigentlich Vaterlandsverräter sind. Genauso wie sie immer wieder meinen, dass Pazifisten eigentlich diejenigen sind, wegen denen Deutschland den Krieg verloren hat. Dabei waren Deserteure diejenigen, die das »Vaterland« in irgendeiner Weise noch geehrt haben. Was allerdings für die Gruppe des 20. Juli 1944 nur bedingt gilt.

Auch in diesem Jahr soll es im November in Halbe wieder einen Naziaufmarsch zum so genannten Heldengedenken geben.

Das ist ein Skandal. Im vergangenen Jahr formierten sich vor dem S-Bahnhof Halbe ungefähr 1 000 Neonazis, die Gebinde mit der Aufschrift »Ruhm und Ehre der stolzen Waffen-SS« dabei hatten. Der Veranstalter Christian Worch erklärte, man müsse grundgesetzkonform sein, was dann so aussah, dass in dem SS-Zeichen ein »S« weggestrichen wurde. Im Aufmarsch der Neonazis befanden sich außerdem vier oder fünf Ritterkreuzträger mit ihrem entsprechend korrigierten Ritterkreuz, wo das Hakenkreuz für die Zeit des Aufmarsches überklebt wurde. Daher ist es nicht nur ein historischer und politischer Skandal, es ist auch ein juristischer. Und es ist natürlich auch für all diejenigen, die Widerstand geleistet haben, ein Schlag ins Gesicht.

Sie sprechen von der Vermischung von Opfern und Tätern, die am »Volkstrauertag« zu beobachten sei. Was meinen Sie damit?

Das ließ sich gut an der Arbeit der Stiftung für sächsische Gedenkstätten beobachten. In dieser Stiftung arbeiten Deserteure und Gruppen der institutionalisierten Wehrmachtseinrichtungen zusammen. Auch letztere gedenken natürlich ihrer Opfer, aber die waren letztlich die Täter, die die Deserteure nicht nur bedrängt, sondern teilweise auch zum Tode verurteilt haben. Von daher meine ich, es muss eine ganz klare Trennung geben. Opfer und Täter dürfen nicht vermischt werden.

Einer der Täter in Halbe war der kommandierende Generaloberst Theodor Busse, der ein Kapitulationsangebot von sowjetischer Seite ablehnte und damit das Todesurteil für Zehntausende besiegelte. 1956 war Busse maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr beteiligt, wofür er 1966 das Bundesverdienstkreuz erhielt. Ist das ein typisches Beispiel für deutsche Heldentradition und Geschichtsaufarbeitung?

Allerdings. Wegen Busse sind nicht nur all diese Soldaten in den Tod gegangen. Es ist eine ganze große Gruppe von Flüchtlingen, die aus dem Osten gerade über die Oder geflüchtet war, ums Leben gekommen. Busse hat meiner Meinung nach nicht einmal die militärische Ehre besessen, die Kämpfenden von den Flüchtenden zu trennen.

Zurzeit läuft der Hitler-Film »Der Untergang«, in der Flick-Collection werden Kunstwerke gezeigt, die mit Geld aus der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen erstanden wurden. Diskussionen zum Film und zur Ausstellung erinnern stark an die immer wiederkehrende Schlussstrichmentalität …

Diese Schlussstrichmentalität der Elterngeneration ist von der jüngeren Generationen übernommen worden. Dies zeigt sich bei der derzeitigen sozialen Situation ganz besonders. Bei den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV habe ich jüngst vernommen, wie in der Nähe des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas junge Leute gesagt haben, dass solche Mahnmale gestrichen gehören und dafür kein Geld mehr ausgegeben werden darf, und dass man stattdessen das Geld für soziale Einrichtungen und Arbeitslose aufwenden soll. Durch den Sozialabbau wird die Schlussstrichmentalität gestützt und letztlich virulent. Man muss der jüngeren Generation erklären, dass die Rüstung der größte Moloch ist, und nicht die Erinnerung. Eine Lösung im Zusammenhang mit der Ausstellung der Flick-Collection kann nur es dahingehend geben, dass Herr Flick die gesamten Kunstwerke zumindest an ein Museum oder gar an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu übergeben hat.

Wie sähe dagegen eine antifaschistische geschichtspolitische Perspektive aus?

Für mich ist eine antifaschistische Geschichtspolitik immer ein aufdeckendes Verfahren. Es gab sicherlich eine ganze Reihe von Problemen, gerade auch im antifaschistischen Widerstand, die aufgedeckt werden müssen und nicht geschönt werden dürfen. Bisher waren für uns die Zeitzeugen das wichtigste Kapital der Erinnerungsarbeit. Was wir jetzt tun müssen, ist, die Zeugen der Zeugen auszubilden.

Dient hierfür auch die Errichtung des Gedenksteines in Halbe?

Wir wollen jetzt nicht einfach nur Denkmal um Denkmal errichten, sondern wir treten dafür ein, dass mit diesem Denkmal ausnahmslos alle Wehrmachtsdeserteure geehrt werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass denjenigen Deserteuren, die mit der Waffe gegen NS-Deutschland gekämpft haben, bis heute die gesellschaftliche Anerkennung und Entschädigung versagt blieb. Das ist unser entsprechendes Manifest.