There is no problem

Who the fuck is Tom Hanks? Jungle World besuchte den echten Flughafenmann in Paris. bernhard schmid fand »Sir Alfred« zwischen einigen Pappkartons

Da sitzt er jetzt also vor mir aus Fleisch und Blut. Eher müsste ich sagen: aus Haut und Knochen. Eingefallene Wangen, ein schütterer Schnauzbart, ein unendlich müder und mitunter abwesender Blick. Kein Vergleich mit dem jung und knackig wirkenden Tom Hanks in dem Film »Terminal« von Steven Spielberg. Vom Elan des Filmhelden »Viktor Nagorski« ist nichts zu spüren. Wir befinden uns auch nicht am John F. Kennedy Airport in New York, sondern im Untergeschoss des Aéroport Charles de Gaulle, in Roissy bei Paris. Und der vielleicht wichtigste Unterschied: Dies ist kein Film, sondern das wirkliche Leben.

Zwei Meter neben dem Mann hasten die Passagiere vorbei, die mal eben noch im Duty Free Shop einkaufen möchten. Am Anfang des Films sagt man dem vorübergehend staatenlos gewordenen Bürger einer in Putschwirren verstrickten und zeitweise international nicht mehr anerkannten Kaukasusrepublik: »There is only one thing you can do here, Mister Nagorski: Shopping«. Nur heißt mein Gegenüber nicht Viktor Nagorski, und von der ominösen Republik »Karkozhia« hat er wohl auch noch nie gehört. Das ist er also: der Mann, der tatsächlich seit Jahren auf einem Flughafen wohnt. Es war gar nicht so schwer, ihn zu finden.

In der Hand einen französischen Zeitschriftenartikel von 1999, mache ich mich auf die Suche. Da steht etwas von der Bye Bye Bar im Einkaufsbereich des Flughafens, in deren Nähe er zu finden sei. Möglichst unauffällig wirken, denke ich mir und frage die beiden schwarzen Kellner an der Theke einer Espressoschenke nach einer gleichnamigen Bar. »Bitte? Die gibt es seit Jahren nicht mehr – das war mal da vorne, aber da wird umgebaut.« Schnell den Kaffee ausgeschlürft und um die Ecke in die Apotheke. »Verzeihung für die ungewöhnliche Frage, aber kennen Sie vielleicht jemanden, der da seit ein paar Jahren …?« »Ach, Monsieur Alfred meinen Sie?«, fällt mir die Apothekerin ohne größere Gefühlsregung ins Wort. »Ja, klar kenne ich den, alle kennen ihn hier. Er kann gar nicht weit sein – ach, von hier aus sehen Sie ihn schon, schauen Sie mal da drüben.« Auf Anhieb sehe ich nichts, oder eher, ich traue meinen Augen nicht: Da ist nur ein armseliges Stillleben aus vier oder fünf zusammengeschobenen leeren Pappkartons, einem Flughafen-Caddie und einer Sitzbank, über die ein paar Klamotten gelegt oder gehängt sind. Und inmitten von allem sitzt er mit ausgestreckten Beinen und liest in einem Buch. Das ist Monsieur Alfred Mehran oder »Sir Alfred«, wie er lieber genannt wird.

Dass er mit richtigem Namen eigentlich Mehran Karimi Nasseri heißt, wusste ich schon, nachdem vor einigen Jahren bereits hier und da Artikel über sein Leben erschienen waren – lange bevor Steven Spielberg es als Vorlage für seine doch recht wirklichkeitsfremde Kinoversion entdeckte. Und dass er 1945 im Iran geboren wurde, auch. Also versuche ich, ihn auf Persisch anzusprechen. Der Versuch kommt aber nicht gut an: »I am no Iranian«, und eine abwehrende Handbewegung sind Alfreds einzige Reaktion. Farsi ist nicht angesagt. Auch Französisch scheint er zwar zu verstehen, aber er weigert sich, es zu sprechen. Er will, und das ist ihm schon fast eine fixe Idee, nur noch Englisch sprechen, die Sprache Shakespeares.

In die Lektüre der vermischten Meldungen aus dem Londoner Leben war er vertieft, als ihm vor Jahren die Aktentasche mit all seinen Papieren am Flughafen von Paris-Roissy gestohlen wurde, so lautet seine Version. Vielleicht hat er die Tasche dort auch auf einer Sitzbank vergessen, wie andere Varianten besagen. Jedenfalls war das 1988. Und damit begann sein Leben an diesem sonst eher unwirtlichen Ort. Ohne irgendein Papier, das als Identitätsnachweis gelten könnte, war er am Heathrow Airport in London eingetroffen und wurde vom Land seiner Träume umgehend dorthin zurückgeschickt, wo er herkam, also nach Paris. Seitdem verfolgt er die BBC-Nachrichten auf den Fernsehern in der Abfertigungshalle des Flughafens. Und wehe dem, der ihn dabei stört, wie die Verkäufer in der Zone des boutiques vorsorglich warnen.

Zumindest in Buchform ist er mittlerweile in England angekommen: »The Terminal Man« lautet der Titel seines vor wenigen Wochen auf der Insel erschienenen Romans, der dort 6,99 Pfund kostet. »You should read it«, meint Alfred zu mir, und er gibt mir auch einen Tipp, wo ich den Roman in Paris erwerben könne; seine Angaben fallen freilich sehr vage aus. Er lebt zwar seit 16 Jahren in Paris, aber er kennt nur den Flughafen. Dass es in dem Roman, der als »Biography & Autobiography« angeboten wird, mit den autobiographischen Angaben nicht so genau genommen wird, erklärt Alfred frei heraus: »I changed the history«, meint er kurz und bündig.

Tatsächlich wird dort erzählt, wie Sir Alfred – jener aus dem Buch – aufgrund der Entdeckung eines lang gehüteten Familiengeheimnisses den Iran verlässt und in Großbritannien zu studieren beginnt, jedoch durch den plötzlichen Abbruch der Kommunikation mit seiner Familie zur Rückkehr in den Iran gezwungen ist. Dort wird er bei seiner Ankunft am Flughafen verhaftet, gefoltert und schließlich wieder abgeschoben; daraufhin beginnt seine Geschichte am 8. August 1988 am Flughafen Charles de Gaulle. In Wirklichkeit hat sich das Geschehen jedoch nicht so zugetragen. Aus den bruchstückhaften Erzählungen des wirklichen Alfred und aus den Angaben seines Pariser Anwalts, Christian Bourguet, ergibt sich ein anderes Bild.

Demnach verließ Mehran Karimi Nasseri im Jahr 1977 den Iran, kehrte jedoch später nie dorthin zurück. Das auslösende Ereignis war, dass der damals 32jährige, der als Waise aufgewachsen war, erfuhr, dass er als unehelicher Sohn eines britischen Offiziers auf die Welt gekommen war. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Daraufhin fasste Mehran ein Ziel, wenn nicht das Ziel seines Lebens, das bis dahin eher freudlos verlaufen sein muss: Er würde seinen leiblichen Vater ausfindig machen, dank diesem die britische Staatsbürgerschaft erhalten und ein neues Leben beginnen. Dafür erhielt er auch ein britisches Visum, das ihm eine ganz legale Einreise nach London erlaubte. Nur war dort der mutmaßliche Vater inzwischen verstorben, und da er vor seinem Tod keine Anerkennung seiner Vaterschaft hinterlassen hatte, blieb diese Tür juristisch für immer verschlossen.

Nach einem Jahr lief die Gültigkeitsdauer des Visums aus, und Mehran fand sich ohne Geld, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Bekannte und ohne jeden Nachweis seiner britischen Abstammung in London wieder. Die Behörden bereiteten seine Abschiebung vor, aber kurz bevor sie zur Tat schritten, reiste Mehran aus – allerdings nicht in den Iran, sondern nach Westdeutschland. Dort beantragte er politisches Asyl, was nicht sonderlich verwundert, denn inzwischen war in Teheran Ayatollah Khomeini an die Macht gekommen. Doch das Asylgesuch wurde abgelehnt. Mehran versuchte es erneut in Belgien, dann in Luxemburg und wieder in Belgien. Damals gab es noch kein Schengener Abkommen, das ihm verboten hätte, Asylanträge in mehreren Mitgliedsländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft zu stellen.

Schließlich fiel eine günstige Entscheidung für ihn. In Brüssel wurde ihm das vorübergehende Aufenthaltsrecht als Flüchtling zuerkannt. Dort konnte Mehran sich einige Jahre lang über Wasser halten. Doch er träumte weiterhin von einem britischen Pass. Deshalb bestieg er am 28. August 1988 ein Flugzeug nach Paris, wo er eine Stunde Aufenthalt vor seinem Weiterflug nach London hatte. Ab da nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Unserem Protagonisten kam der Pass abhanden. Von den Briten am selben Tag zurück nach Paris-Roissy geschickt, findet sich der Ausweis- und damit offiziell »Identitätslose« im Flughafengefängnis wieder. Drei Monate lang saß er dort ein. Selbst die Wächter finden die Situation absurd und nehmen »Alfred«, wie sie ihn taufen, regelmäßig mit nach draußen an die frische Luft, obwohl das verboten ist. Am Ende lassen sie ihn gänzlich unbeaufsichtigt in der internationalen Transitzone. Nach draußen zu gehen, bleibt Mehran/Alfred verboten. Vier Jahre verstreichen, dann erfährt er, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR nunmehr endlich eine Kopie seiner in Belgien ausgehändigten Dokumente als Asylantragsteller angefertigt hat. Jetzt genügt es also – so die frohe Botschaft, die Alfred verkündet wird –, dass er bei den Behörden in Brüssel vorstellig wird, um erneut die Originaldokumente zu erhalten. Gut und schön, aber es bleibt eine kleine Frage offen: Wie kann eine Person ohne gültiges Ausweispapier, die auch nicht formell für staatenlos erklärt worden ist, von Paris nach Brüssel reisen? Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Unterdessen richtet sich Alfred im Untergeschoss des Flughafens ein, auf seine Weise. Angestellte der diversen Fluggesellschaften bringen ihm Essensportionen von Bord mit, ansonsten verpflegt er sich bei McDonald’s. Der Chefarzt des Flughafens, Philippe Bargain, untersucht ihn regelmäßig auf seinen Gesundheitszustand. Und seine Klamotten wäscht eine Stewardess der Lufthansa.

Doch das lange Leben im Durchgang der Passagiere lässt Alfred den Sinn für Raum und Zeit und in gewissem Maße auch für die Realität verlieren. Vieles wird ihm gleichgültig. Auf meine Frage, in welchem Radius er sich denn bewegen könne und ob er denn auch mal nach draußen dürfe, antwortet Alfred nur höchst apathisch: »There is no problem, there is no problem.«

Im Juni 1999 schien das langsame Mahlen der Bürokratiemühlen endlich zu einem Abschluss zu kommen. Damals ließ der Innenminister Jean-Pierre Chevènement, auf dessen Schreibtisch die Angelegenheit inzwischen gelandet war, die Ausstellung eines Aufenthaltstitels anordnen. Er hatte erkannt, dass jemand, der einen gültigen Aufenthaltsstatus als Flüchtling in Belgien hat, damit auch im Schengen-Mitgliedsland Frankreich ein Aufenthaltsrecht genießt. Doch Alfred wollte davon nichts mehr wissen: Einen Herrn dieses Namens kenne er nicht mehr, mit diesen Worten lehnte er die auf den Namen »Mehran Karimi Nasseri« ausgestellten Papiere ab. Inzwischen war er vollkommen zu Mister Alfred geworden. »Nur als freier Mann«, als Sir Alfred also, werde er den Flughafen verlassen, »oder aber mein ganzes Leben hier bleiben«. Die fixe Idee, nach so langem Warten, lässt keinen Platz mehr für schäbige Kompromisse.

Der größte Witz an dieser kafkaesken Geschichte ist, dass Alfred einfach gehen könnte. Den Flughafen zu verlassen, ist ihm zwar formell verboten. Aber auf dem Weg von der Haltestelle der Regionalschnellbahn bis zu dem Ort, an dem Monsieur Alfred sitzt, hat mich niemand aufgefordert, meine Papiere vorzuzeigen. Zumindest an diesem Punkt liegt Spielberg mit seiner filmischen Schnulzen nicht so weit daneben.

Im Film sieht man den karrieregeilen Oberpolizisten des New Yorker Flughafens, Frank Dixon, mit der Frage beschäftigt: »Warum sucht er nicht nach den Lücken im System? Warum nutzt er nicht die Lücken, um rauszukommen? Alle tun das!« Zunächst von dem Standpunkt »Hauptsache, ich werde das Problem los« ausgehend, versucht Dixon, dem vorübergehend staatenlos gewordenen Nagorski zu helfen. Mal will er ihn dazu animieren, einfach »Illegaler« in New York City zu werden und möglichst schnell Land zu gewinnen (»Um 12 Uhr werden die Wachen ausgetauscht, und die Ablösung trifft erst um 12.05 Uhr ein – haben Sie mich verstanden, Mister Nagorski?«), mal will er ihn in ein Asylverfahren hineindrängen. Dann wieder versucht der Oberbulle, seinen »Schützling« in eine Falle zu locken: Wenn er ihn bei einem illegalen Versuch, den Flughafen zu verlassen, ertappen könnte, würde er über einen Vorwand verfügen, ihn inhaftieren zu lassen.

In Wirklichkeit würden sich die Verantwortlichen des Migrations- und Überwachungsregimes wohl kaum über ein einzelnes Individuum so sehr den Kopf zerbrechen, wie das hier auf der Leinwand dargestellt wird. Dennoch stimmt es, dass das System eine doppelte Wirkung erzielt und mutmaßlich auch intendiert. Einerseits gibt es Repression, Bestrafung und Abwehr von Flüchtlingen. Andererseits aber produziert und provoziert es die »Illegalisierung« von Asylsuchenden und in deren Folge unter anderem die Hinnahme besonders übler Arbeitsverhältnisse. Sicherlich schwankt das Verhältnis zwischen beiden Aspekten, in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und ideologischen Faktoren. So dürfte in den USA der Ausgrenzungs- und Sicherheitsaspekt seit dem 11. September 2001 und der Verabschiedung des »Patriot Act« zugenommen haben, während traditionell eher das Illegalisierungsmodell im Vordergrund stand. In West- und Nordeuropa dagegen überwiegt schon seit längerem die Verteidigung des Grenzregimes gegenüber einer solchen pragmatischen Offenheit für »illegale« Arbeit.

Aber auch hier werden andere Mechanismen in die vorrangig auf Abwehr ausgerichtete Politik integriert. In Frankreich etwa sieht ein unter einer konservativen Regierung verabschiedetes Ausländergesetz seit 1997 vor, dass all jenen »illegalen« Einwanderern, die nachweislich seit zehn Jahren im Land ausgeharrt haben, ihre Legalisierung in Aussicht gestellt wird. Das ist die Anerkennung eines faktischen Zustands, der auch die ständige Präsenz »nicht legal« im Lande lebender und deswegen relativ rechtloser Menschen beinhaltet. Die Unterschiede zum früheren US-amerikanischen und zeitweise auch britischen System, das die Türen für illegalisierte und folglich prekarisierte Arbeitskräfte relativ weit offen stehen ließ, liegt darin, dass die nordeuropäischen Sozialsysteme traditionell mehr gesellschaftliche Garantien an die Anerkennung des Aufenthaltsrechts dieser Arbeitskräfte knüpften. In einem System, wo Millionen working poor auch bei legalem Aufenthaltsstatus keinerlei Sozialversicherung haben, kommt solchen Bedenken dagegen eine geringere Bedeutung zu.

Sir Alfred ist das Beispiel dafür, was mit einem Individuum geschieht, das in die Mühlen der mit den Mechanismen des Grenzregimes verbundenen Bürokratie gerät und gleichzeitig nicht die Fantasie, die Entschlusskraft oder die nötigen Voraussetzungen besitzt, um sich auf den Wegen der Illegalität durchzuschlagen. Als Anhänger von Bordieu würde man an dieser Stelle vom »sozialen und kulturellen Kapital« sprechen, das Sir Alfred bräuchte. Das kann in familiären Bindungen bestehen, die vielen Neueinwanderern die schnelle Integration in ein soziales Netzwerk erlauben. Es kann auf Vorkenntnissen beruhen, auf Erzählungen anderer Migranten. Oder auch auf dem Mut und der Vorstellungskraft, die jemand benötigt, um sich, einmal in der »Transitzone« festgesetzt, einfach auf leisen Sohlen vom Acker zu machen.

Alfred hat das alles nicht. Und dennoch könnte auch er auf seine Weise Gewinn aus der Situation schlagen, in der er lebt: Seine Geschichte ist derart absurd und dennoch real, dass der Kauf der Urheberrechte durch Spielberg ihm angeblich ein sattes Dollarsümmchen eingebracht hat, das nun in einer Postbankfiliale im Untergeschoss des Pariser Flughafens schlummern soll. Ob Sir Alfred persönlich viel davon haben wird, sei dahingestellt. Die Angestellten des Pariser Flughafens gehen nicht davon aus, dass er sein Leben woanders als in »seiner« Duty free-Meile beenden wird.