Arm in die Zukunft

Wer hätte das gedacht: Unter der rot-grünen Regierung wächst die Armut. von winfried rust

Das Ziel der Reformregierung, dass die Penner aus Pfandflaschen trinken, rückt näher. Und die Armut wird auf Dauer bewirtschaftet, weshalb die Bundesregierung auch einen Armutsbericht herausgibt. So etwas gab es früher nicht.

Trotz des Aufstiegs eines Teils der SozialhilfeempfängerInnen zu BezieherInnen von Arbeitslosengeld II bleibt die Kopplung der Leistung an die alten Sozialhilferegelungen. Außerdem fallen nach einer Berechnung des DGB mit Hartz IV über 500 000 EmpfängerInnen von Arbeitslosenhilfe aus jeglicher Unterstützung heraus, zumeist mit der Begründung, dass sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Ein neues Segment von bislang abgesicherter Arbeitslosigkeit wird an die Armutsgrenze herangefördert. So bleibt Armut zukunftsfähig.

Derzeit schließt die Bundesregierung ihren zweiten Armuts- und Reichtumsbericht ab. Seit dem ersten aus dem Jahr 1998 ist die Armut um reale 1,4 Prozent gestiegen. 13,5 Prozent der Bevölkerung müssen von weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens leben. Die Zahl der überschuldeten Haushalte hat sich auf 3,13 Millionen erhöht. 1,1 Millionen Kinder sind auf Sozialhilfe angewiesen, die »mit Abstand größte Gruppe«. Die Chancen dieser Kinder auf eine höhere Bildung sind sehr gering.

Auch die Reichen verzeichnen mit zwei Prozent einen Zugewinn. Den reichsten zehn Prozent der Haushalte gehören jetzt stattliche 2,5 Billionen Euro – 47 Prozent des gesamten privaten Nettovermögens. Der Vermögensanteil der unteren 50 Prozent aller Haushalte am Gesamtvermögen sinkt allerdings von 4,4 auf vier Prozent.

»Auf den ersten Blick ist das schon ein Schock«, kommentierte der Fraktionsvize der SPD, Ludwig Stiegler. Er muss ein aufregendes Leben führen, sind Schocks doch normalerweise die Folge unerwarteter Ereignisse. Seien es vermehrte Zuzahlungen oder Praxisgebühren im Gesundheitswesen, Sozialkürzungen, die Marginalisierung des sozialen Wohnungsbaus, Steuersenkungen oder die jüngsten Arbeitsmarktreformen – die rot-grüne Regierung betreibt konsequent eine Sozialstrukturreform, die die Armen ärmer und die Reichen reicher macht.

Vergleichsweise wenig schockiert zeigen sich die Betroffenen. Die Bevölkerung findet die Reform der Sozialsysteme nach einer aktuellen Infratest-Umfrage richtig. Dabei entspricht die Zustimmung unter den AnhängerInnen der Grünen mit 54 Prozent exakt dem Bevölkerungsdurchschnitt. Auch die Armen schweigen. Ob es die zahlreicher werdenden Obdachlosen sind, die von Kinderarmut Betroffenen, Menschen, die sich den Besuch von Bibliotheken oder Arztpraxen nicht mehr leisten können, Studierende, die, statt Bafög zu bekommen, Studiengebühren zahlen müssen, ob working poor oder klamme Langzeitarbeitslose: Sie erdulden die Armut überwiegend stumm und schämen sich, offen aufzutreten. Die Agenda 2010 ist eine ferne Drohung, das Fehlen des Geldes für den nächsten Schulausflug nimmt man eher sich selbst oder dem Kinde übel als der Regierung.

Kurioserweise wächst die Besitzstandswahrung noch mit steigendem Besitz. Dabei könnte der immer größer werdende Unterschied zwischen Arm und Reich anderen Tendenzen Vorschub leisten, etwa dem Impuls, sich oder anderen nicht das Lebensnotwendige nehmen zu lassen. Zwar führte Hartz IV zu Protesten, doch an einen Generalstreik von Millionen Angestellten wie etwa in Italien anlässlich der unsozialen Steuerreform der Regierung Berlusconi, der zum Stillstand des öffentlichen Lebens führte, ist in Deutschland nicht zu denken.

So weit die Politik. Aber natürlich rühren Armut und Reichtum auch aus der ökonomischen und gesellschaftlichen Sphäre her. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Rationalisierungsdruck, die Niedriglohnkonkurrenz und die Ich-AGs drücken die Löhne nach unten. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB stellte gerade in einer Studie fest, dass die Nettolöhne seit dem Jahr 1992 kontinuierlich sinken, die Nettogewinne der Unternehmen demgegenüber kontinuierlich ansteigen.

Die postfordistische Produktion und die ihr zugrunde liegende Ideologie führen zur »Individualisierung« der Menschen und stärken die Tugend der »Eigenverantwortung«. Mehr als zuvor gilt Armut als individuelles Problem und Makel. Gewinne wegen der gestiegenen Produktivität sind Privatsache, Massenentlassungen jedoch Allgemeingut. Die Konkurrenzlogik, der die Arbeitssubjekte unterworfen sind, bewirkt, dass der Kampf für den Lebensunterhalt zum Kampf gegen andere um einen Arbeitsplatz wird. Das ist das Elend des Kapitals. Im gleichnamigen Buch heißt es zu dem Thema: »Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol.«

Es lohnt sich also ein genauer Blick auf die Armut. Zum einen schränkt sie die Betroffenen in ihrer Lebensgestaltung ein und stiftet Unglück. Weltweit herrscht milliardenfach extreme Not, trotz ausreichend vorhandener Güter. Schon ein Blick in den UN-Bericht für die menschliche Entwicklung bestätigt diesen Befund, und es sollte selbstverständlich für Linke sein, Armut per se zu bekämpfen.

Doch die traditionelle Parteinahme für die Armen weist auch Mängel auf. Sie reduzierte Kapitalismus häufig auf den Aspekt der ungleichen Verteilung. Daraus resultierte, dass der Kampf gegen die Armut ihre Ursachen beförderte: Staat, Entwicklung, Arbeitsplätze. »Nur Reiche können sich weniger Staat leisten«, wissen Staatslinke und denken das Soziale vom »ideellen Gesamtkapitalisten« (wie Marx den Staat bezeichnete) her. Ware, Kapital, Arbeit, Herrschaft und Ideologien sind die Grundlagen der Armut, welche nicht einfach vom Lohnbuchhalter bereinigt werden kann. Die geistige und seelische Armut der Arbeitsgesellschaft erfordert einen umfassenderen Blick auf das Elend der Welt, welches sich nicht alleine in den Qualen der materiellen Armut erschöpft.

Weil nicht davon die Rede ist, dass das Modell der Lebenssicherung durch Lohnarbeit veraltet ist, liegt es nahe, regressive Erklärungen für die eigene Armut zu suchen. Nach einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts sind die zwei größten Ängste der Deutschen die vor sozialem Abstieg und die vor zu vielen Ausländern. Das lässt sich prima verbinden. Die Angst vor dem eigenen Abstieg wird abgespalten und im Ressentiment gegen Obdachlose und Arme verarbeitet. AusländerInnen werden als Konkurrenz im Verteilungskampf betrachtet. Die aktuelle Studie über »Deutsche Zustände« des Forscherteams um den Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer bestätigt für das Jahr 2004 durchgehend wachsende Aversionen gegen AusländerInnen und soziale Minderheiten. Mit der größer werdenden sozialen Spaltung können auch menschenfeindliche Einstellungen wieder salonfähig werden.

Die Politik hält sich derweil an ihre Reformen und stellt der herrschenden Armut noch Repression an die Seite. Kinderarmut müsse »mit einer fördernden, aber auch fordernden Sozialpolitik« bekämpft werden, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit erhobenem Zeigefinger. Die EmpfängerInnen des ALG II müssen sich auf Arbeitszwang und Haushaltskontrollen gefasst machen. Mehr Armut und mehr Repression lösen die Verheißung der Regierung Schröder ein, »nicht alles anders, aber vieles besser« zu machen.