Klagen, frieren und blockieren

Die richterliche Entscheidung, die Stichwahl zur Präsidentschaft zu wiederholen, ist ein Sieg für die ukrainische Opposition. Die alte Regierung hat an Rückhalt in den staatlichen Institutionen verloren. von franziska bruder

Für die oppositionellen Demonstranten in Kiew dürfte das Zittern nun ein Ende haben. Mykola Katerintschuk, Anwalt des Präsidentshaftskandidaten Victor Juschtschenko, verkündete am vergangenen Freitag den »großen Sieg für jene, die auf dem Platz gestanden haben«. Kurz zuvor hatte das Oberste Gericht die Ergebnisse der Wahlen vom 21. November für ungültig erklärt und eine Wiederholung der Stichwahl angeordnet.

Das Gericht annullierte nicht nur das von der Opposition wegen Fälschungen angefochtene Ergebnis, das Janukowitsch die Präsidentschaft zugesprochen hatte. Die Richter verwarfen auch den Vorschlag, den gesamten Wahlvorgang zu wiederholen. Dies hätte dem amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma ein halbes Jahr Zeit gegeben, statt seines demontierten Wunschnachfolgers Janukowitsch einen neuen Kandidaten aufzubauen.

Seit dem Wahlabend am 21. November protestierten Oppositionelle gegen Manipulationen und forderten eine Wiederholung der Abstimmung. Bis zu 500 000 Menschen beteiligten sich an den Demonstrationen, ungefähr 5 000 campierten in der Kiewer Innenstadt. Die Regierungsgebäude wurden blockiert, jeden Abend fanden auf dem Platz der Unabhängigkeit Kundgebungen, HipHop- und Rockkonzerte statt.

In der vergangenen Woche schien die Geduld der Demonstranten, die bei frostigen Temperaturen ausharrten, erschöpft zu sein. Als die Abgeordneten am 30. November ein von der Opposition eingebrachtes Misstrauensvotum gegen die Regierung ablehnten, kam es vor dem Parlament zu Tumulten. Die Demonstranten konnten von Abgeordneten des Oppositionsbündnisses Nascha Ukrajina (Unsere Ukraine) nur mühsam davon abgehalten werden, in das Gebäude einzudringen. Tags darauf wurde das Misstrauensvotum in geheimer Abstimmung wiederholt, und dieses Mal wurde ihm stattgegeben.

Von den Tumulten aufgescheucht, reisten die Vermittler erneut nach Kiew. Allen voran der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, der litauische Präsident Valdas Adamkus und der EU-Außenbeauftragte Javier Solana. Sie einigten sich mit Kutschma, Juschtschenko, Janukowitsch und einem Vertreter Russlands zunächst darauf, dass keine Seite Gewalt anwenden werde, das Urteil des Obersten Gerichts abgewartet und »die Wahl« wiederholt werden müsse. Am nächsten Morgen flog Kutschma zu Wladimir Putin, der erklärte, für ihn käme nur eine Wiederholung der gesamten Wahl in Frage. Die EU-Vertreter dagegen bevorzugten eine Wiederholung allein der Stichwahl.

Die Entscheidung des Obersten Gerichts ist somit auch eine Niederlage für Putin. Wahrscheinlich hat Juschtschenko in den Verhandlungen jedoch auch Zugeständnisse gegenüber Russland gemacht. Andeutungen aus dem Kreis der Vermittler zufolge wurde auch über Straffreiheit für Kutschma und seine Familie gesprochen.

Die Mobilisierung auf den Straßen war ein wichtiger Machtfaktor für die Opposition, mit dem sie sich auch legitimierte (»Das Volk steht hinter uns«). Entscheidend für die nun beschlossene Lösung war jedoch auch, dass Kutschma und Janukowitsch mehr und mehr an Rückhalt in den Institutionen verloren und sich viele der regierungstreuen Medien aus der staatlichen Kontrolle lösten. Viktor Pintschuk, Kutschmas Schwiegersohn, zweitreichster Mann des Landes und Inhaber des Senders ICTV, wagte sich sogar zu den Demonstranten auf die Straße und versprach eine bessere Berichterstattung.

Ein Grund für diesen Machtverlust dürfte die Sorge vor einem Zerfall des Landes gewesen sein. Die Gouverneure der östlichen Oblaste (Gebiete) hatten am 28. November beschlossen, sich im Falle eines Wahlsiegs Juschtschenkos um den Status einer autonomen Republik zu bemühen. In L’wiw organisierte die Opposition eine Demonstration für die Einheit des Landes und eine Kundgebung gegen die Einflussnahme Russlands. »Nein zum kleinrussischen Syndrom« und »Schluss mit der sklavenähnlichen Abhängigkeit von Russland«, forderte der Rektor der Ivan-Franko–Universität Vakartschuk in L’wiw in einem offenen Brief.

Das Votum der Gouverneure stellte den Gegensatz zwischen der Ost- und der Westukraine in den Mittelpunkt. Bis zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gehörten die Landesteile zu unterschiedlichen Einflusssphären. Der Großteil der Westukraine gehörte zu Polen, zuvor zu Österreich-Ungarn, die Zentral- und Ostukraine war ein Teil Russlands und später der Sowjetunion.

Während des Zweiten Weltkriegs kämpften viele Ostukrainer bei den sowjetischen Partisanen und in der Roten Armee, viele Westukrainer hingegen in der nationalistischen Ukrainischen Aufstandsarmee, dem militärischen Arm der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die zunächst mit den Nationalsozialisten verbündet war, dann von ihnen bekämpft wurde und gegen Kriegsende erneut mit ihnen kollaborierte. Eine Nachfolgeorganisation der OUN ist auch Teil des heterogenen Oppositionsverbandes Nascha Ukrajina; das ist der Hintergrund der Vorwürfe gegen Juschtschenko, er sei »Nazi«.

Der Westen ist, was die Fläche wie auch die Bevölkerungszahl betrifft, weitaus kleiner als die Zentral- und Ostukraine, die wegen der dort ansässigen Schwerindustrie sehr viel reicher ist. Die verschiedenen Clans der Zentral- und Ostukraine stützen sich auf die Industriezweige, die sich die alte Nomenklatura nach der staatlichen Unabhängigkeit und der anschließenden Privatisierung unter den Nagel gerissen hat.

Orientieren sich die Menschen im Osten am näher liegenden Russland, ist das weniger ideologisch als praktisch motiviert. Von Putins Versprechen, sie könnten sich 90 Tage in Russland ohne Anmeldung aufhalten und Arbeit suchen, haben sie allemal mehr als die Menschen in der Westukraine, die mit den geschlossenen Grenzen zur EU konfrontiert sind und auch jetzt nicht mehr zu hören bekommen, als dass eine »Mitgliedschaft in der EU nicht ausgeschlossen« sei, derzeit aber nicht zur Debatte stehe.

Auch im Osten stimmten die Menschen Anfang der neunziger Jahre mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit und Einheit der Ukraine, obgleich sie vielfach russischsprachig und russisch-orthodoxen Glaubens waren. Man sollte sich daher davor hüten, den Westen wie den Osten zu monolithisch zu sehen. Auch in der Zentral- und Ostukraine erhielt Juschtschenko Unterstützung, in Sumy erreichte er sogar eine Mehrheit von fast 70 Prozent.

Mit der Drohung, das Land zu teilen, haben sich die Anhänger Janukowitschs zu weit aus dem Fenster gelehnt. Auch der Industrieverband Donbas sprach sich gegen Separatismus aus, und selbst Putin sagte, für ihn stehe die Einheit der Ukraine nicht in Frage. Schließlich hofft er auf die Hegemonie über das gesamte Territorium.

Der Machtkampf ist jedoch noch nicht entschieden. Regierungstreue Abgeordnete blockierten am Samstag die Verabschiedung der Gesetze, die für die termingerechte Abhaltung der Wahlen am 26. Dezember und die Verhinderung von Manipulationen notwendig sind. Und auch wenn Juschtschenko Präsident werden sollte, müsste er Rücksicht auf die ökonomische Macht der ostukrainischen Clans und auf die Interessen des russischen Staats nehmen.