Ein Entwickler auf 30 Millionen Nutzer
»Wie kann man diese Telegram-Kanäle aufhalten? Kann man sie blockieren? Nein. Niemand kann das«, beschwerte sich der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko im Jahr 2020 angesichts regierungskritischer Massenproteste in seinem Land. Vielleicht dachten die französischen Behörden Ähnliches, als sie Pawel Durow, den Leiter und Gründer des Instant-Messaging-Dienstes Telegram, am 24. August an einem Pariser Flughafen festnahmen.
Durow stilisiert sich selbst gerne als Vorkämpfer gegen jedwede Regierungskontrolle, der für uneingeschränkte Redefreiheit im Internet eintritt. Diesen Ruf erwarb er sich durch seine Konflikte mit den russischen Behörden, die 2018 versuchten, Telegram zu sperren. Doch der russischen Internetbehörde Roskomnadsor gelang es nicht, die Telegram-App in Russland wirkungsvoll unbenutzbar zu machen, 2020 wurde die Sperre offiziell aufgehoben. Telegram habe gewonnen, sagten die einen. Es gab eine Vereinbarung mit der russischen Regierung, sagte die russische Regierung.
Telegram hat dauerhaft Zugriff auf alle Kanäle, Gruppenchats und die allermeisten privaten Chats seiner Nutzer:innen.
Dass es eine solche Vereinbarung gab, die über ein reines Lippenbekenntnis Durows zur Bekämpfung von Terrorismus hinausging, vielleicht gar eine sicherheitstechnische Hintertür, um Zugriff auf private Chats und Chatgruppen zu ermöglichen, lässt sich nicht ausschließen. Zu Durows libertärer Selbstdarstellung würde es jedenfalls nicht passen. Gleichwohl ist Durow kein anarchistischer Politaktivist, sondern ein weltweit tätiger IT-Unternehmer, dessen Vermögen Forbes auf über 15 Milliarden US-Dollar schätzt. Da könnte sein mehrtägiger Aufenthalt in französischer Haft seinem Image als Rebell gegen staatliche Bevormundung sogar gutgetan haben.
Die französischen Behörden ermitteln gegen Durow wegen einer möglichen Mitschuld an verschiedenen Straftaten, darunter Drogenhandel, Geldwäsche, Betrug sowie Besitz und Verbreitung pornographischer Darstellungen von Kindern. Außerdem werfen sie ihm mangelnde Kooperation mit den französischen Strafverfolgungsbehörden vor. Gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro wurde Durow nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt.
BKA erwirkte 2022 Herausgabe von Nutzer:innendaten
Durow schrieb auf seinem Telegram-Kanal, der Messaging-Dienst habe sehr wohl mit Behörden kooperiert. Außerdem sei es unzulässig, den Betreiber einer Plattform persönlich für Straftaten haftbar zu machen, die andere auf ihr begangen hätten. Üblicherweise werde in dem Fall gegen das Unternehmen vorgegangen.
Kooperation mit Behörden gab es in der Tat. In Deutschland beispielsweise erwirkte das Bundeskriminalamt (BKA), nachdem Telegram ein Gesuch der Behörde mehr als ein Jahr lang ignoriert hatte, 2022 die Herausgabe von Nutzer:innendaten. Es soll dabei um Fälle von islamistischem Terror und Kindesmissbrauch gegangen sein. Trotzdem wirbt Telegram bis heute mit der Behauptung: »Bis zum heutigen Tag wurden null Byte Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich aller Regierungen.«
Dass das Unternehmen abseits solcher dem Marketing dienenden Bekundungen eher pragmatischen als prinzipiellen Erwägungen folgt, wenn es entscheidet, inwieweit es mit Behörden kooperiert, zeigte die Moderationspolitik nach dem 7. Oktober. Damals verbreitete die Hamas unter anderem Videos von Massakern an Zivilisten auf Telegram. Durow teilte mit, er wolle keine Hamas-Kanäle löschen. Als das BKA genau das anordnete, kam Telegram dem trotzdem unverzüglich nach – jedoch nur in Deutschland.
Vertrauen ist für Nutzer:innen essentiell
Erst als Apple und Google drohten, Telegram aus ihren App-Stores zu verbannen, schränkte Telegram den Zugriff auf die Hamas-Kanäle weiter ein – für die Telegram-App aus den Stores von Apple und Google, nicht aber für die Version der App, die man beispielsweise bei Telegram direkt herunterladen kann. In den FAQ des Unternehmens behauptet es trotzdem, »terroristische (z.B. ISIS-bezogene) Bots und Kanäle« würden blockiert.
Solche halbherzigen Zugeständnisse erzeugen weder Vertrauen in Durows Versprechen völliger Geheimhaltung von Kommunikation noch in die inhaltlichen Grenzen dessen, was Telegram auf seiner Plattform duldet. Vertrauen ist für Nutzer:innen von Telegram aber essentiell. Die Sicherheit der Verschlüsselung zwischen der Telegram-App und den Servern von Telegram ist zwar überprüfbar. Weder Internetanbieter noch Geheimdienste können die Kommunikation mit dem Telegram-Server mitlesen.
Aber was auf den Servern von Telegram passiert, ist nicht öffentlich nachvollziehbar. Zwar bietet Telegram auch Ende-zu-Ende-verschlüsselte Privatchats (»geheime Chats«) an, deren Inhalt auch vor Telegram verborgen bleibt und nur von den Geräten der jeweiligen Nutzer:innen entschlüsselt werden kann. Die Funktion muss aber erst aktiviert werden, was die meisten Nutzer:innen nicht tun. Gruppenchats und Kanäle lassen sich gar nicht derart verschlüsseln.
Verschlüsselung von großen Gruppenchats technisch nicht trivial
Telegram hat gute Gründe für diese Entscheidung. Da die Kommunikation dauerhaft in der Telegram-Cloud gespeichert wird, kann jede:r Nutzer:in von verschiedenen Geräten aus auf seine Chats zugreifen, beispielsweise gleichzeitig vom Smartphone und vom Computer. Ebenso kann man sich mit einem neuen Mobiltelefon in alte Chats einloggen. Geheime Chats hingegen wären an ein Gerät gebunden.
Telegram argumentiert, dass diese Lösung für die meisten Nutzer:innen praktischer sei als beispielsweise die Herangehensweise von Whatsapp, wo alle Chats verschlüsselt sind, die Nutzer:innen eine Sicherheitskopie ihrer Kommunikation aber meist unverschlüsselt bei Icloud oder Google Drive speichern. Andere Messaging-Dienste – beispielsweise das alle Chats verschlüsselnde Programm Signal – verzichten ganz auf Zugriffswiederherstellung, was sie weniger massentauglich mache.
Tatsächlich ist die Verschlüsselung von großen Gruppenchats technisch nicht trivial. Signal hat daher die Gruppengröße auf 1.000 beschränkt, bei Telegram hingegen sind Gruppen und Kanäle mit bis zu 200.000 Mitgliedern möglich. Die Folge ist allerdings, dass Telegram dauerhaft Zugriff auf alle Kanäle, Gruppenchats und die allermeisten privaten Chats seiner Nutzer:innen hat (nämlich alle außer den »geheimen Chats«).
Wie finanziert sich Telegram?
Dass diese Daten so pfleglich behandelt und vor staatlichen Zugriffen geschützt werden, wie Telegram verspricht, darauf muss man eben vertrauen. Immerhin ist bisher kein Fall von Datenverlusten bekannt geworden und das Sammeln der Nutzer:innendaten zum Zweck der Vermarktung gehört nicht zu Telegrams Geschäftsmodell, anders als bei den Konzernen Alphabet (Google) oder Meta (Facebook, Instagram, Whatsapp).
Doch was ist das Geschäftsmodell? Nach eigenen Angaben hat Durow Telegram die meiste Zeit aus eigener Tasche finanziert. Ab 2017 experimentierte Telegram mit einer eigenen Kryptowährung. Derzeit verweist das Unternehmen zur Finanzierung lediglich auf sponsored messages in öffentlichen Kanälen und die kostenpflichtige Premiumversion.
Jedenfalls scheint Telegram seine Ausgaben niedrig zu halten. Nach eigenen Angaben beschäftigt Telegram nur um die 50 Personen in Vollzeit – bei 950 Millionen monatlich aktiven Nutzer:innen. Der weitgehende Verzicht auf Moderation der Inhalte könnte also auch finanziell motiviert sein. Zum Vergleich: 2020 gab Facebook an, 15.000 Menschen für die Moderation von Inhalten zu beschäftigen, bei Tiktok sollen es 40.000 sein.
Die Electronic Frontier Foundation (EFF), eine Nichtregierungsorganisation in den USA, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt, kündigte an, das Verfahren gegen Durow genau zu beobachten.
Die EU versucht, Online-Plattformen stärker zu regulieren. Anfang dieses Jahres ist der Digital Services Act (DSA) vollumfänglich in Kraft getreten. Er sieht unter anderem verpflichtende Verfahren vor, über die Nutzer:innen illegale Inhalte melden können, und macht Vorgaben, wie solche Meldungen von den Unternehmen zu behandeln sind. Bei Verstößen drohen Strafen, die bis zu sechs Prozent des weltweiten Umsatzes betragen können.
Das scheint auch Telegram zu beeindrucken, denn es hat eine »Nutzerleitlinie für das EU-Gesetz über digitale Dienste« veröffentlicht, die allerdings nur dann Bestandteil der Nutzungsbedingungen ist, wenn man aus der EU auf Telegram zugreift. Darin ist aufgeführt, dass auf Telegram Spam, die Förderung von Gewalt, »illegale sexuelle Inhalte« und »Aktivitäten, die in den meisten Ländern als illegal anerkannt sind«, nicht erlaubt seien.
Die französischen Behörden ermitteln aber nicht auf Grundlage des DSA gegen Telegram, sondern aufgrund nationaler Gesetze gegen Durow selbst. Sie werfen ihm neben der genannten Mitschuld an Straftaten auch vor, er habe für Telegram im Ausland entwickelte kryptographische Dienste importiert und ohne eine in Frankreich vorgeschriebene Anmeldung angeboten.
Kommunikation, die sich dem Zugriff des Staats entzieht, ist notwendig
Die Electronic Frontier Foundation (EFF), eine Nichtregierungsorganisation in den USA, die sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt, kündigte an, das Verfahren genau zu beobachten. Die Organisation habe zwar Bedenken, was einige von Telegrams Geschäftspraktiken angehe, und hatte in der Vergangenheit beispielsweise kritisiert, dass die App als sicher verschlüsselt vermarktet wird, obwohl die meisten der Chats nicht Ende-zu-Ende-verschlüsselt seien.
Sollte sich jedoch herausstellen, dass die französischen Behörden Telegram bestrafen wollen, weil es Ende-zu-Ende-verschlüsselte Nachrichten nicht kontrolliere, werde die Organisation sich dem entschieden entgegenstellen. EFF warnt seit Jahren vor Versuchen verschiedener Regierungen, solche Verschlüsselung zu verbieten.
Unter diesem Gesichtspunkt könnte das Verfahren gegen Durow durchaus weitreichende Folgen haben. Denn egal wie man nun zu Telegram steht und so wichtig es ist, gegen islamistischen und rechtsextremen Terror vorzugehen: Kommunikation, die sich dem Zugriff des Staats entzieht, ist notwendig – insbesondere, wenn die Brandmauer nicht halten sollte.