Warum in Russland nicht nur ­Oppositionelle, sondern auch Regierung und ­Militär Telegram verteidigen

Durow und der Kreml

Telegram ist aus der russischen Öffentlichkeit kaum noch wegzudenken. Kremlkritische Medien können sich hier noch frei äußern, aber auch staatliche Propagandisten und das Militär nutzen den Instant-Messaging-Dienst.

Telegram wächst und wächst. Pawel Durow, der Gründer des Instant-Messaging-Diensts, frohlockte im Frühjahr, dieser sei auf dem besten Weg, bei der Zahl der monatlichen Nutzer eine Milliarde zu erreichen.

Auch dass Durow nach seiner Festnahme in Frankreich im August mit den dortigen Behörden kooperierte, dürfte dem Erfolg seiner App keinen Abbruch tun. Der ­Informatiker zehrt nach wie vor von seinem Ruf, den er sich mit seiner Unnachgiebigkeit im Kräftemessen mit dem russischen Staat erworben hat, als es darum ging, die Privatsphäre und den Datenschutz der Telegram-Nutzer zu wahren.

Russische Regierungsvertreter und nationalistische Militärblogger gaben vor, Durows Festnahme durch ein westliches Land gefährde die freie Meinungsäußerung.

Durow wird oft als russischer Mark Zuckerberg bezeichnet, denn er gründete auch Vkontakte, das russische Pendant zu Facebook. Als es 2012 in Russland zu Protesten gegen die Fälschung der Präsidentschaftswahl kam, übten die Behörden Druck auf Vkontakte aus, die Seiten von Oppositionellen zu löschen. Durow weigerte sich und trat 2014 als Geschäftsführer von Vkontakte zurück. Seitdem lebt er im Exil, wo er sich dem Aufbau von Telegram widmete.

Ab 2018 versuchte die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor, Telegram in Russland zu blockieren. Die Begründung: Durow habe sich geweigert, dem Inlandsgeheimdienst FSB die Verschlüsselungscodes der Chats von Telegram-Nutzern offenzulegen. Allerdings erfolgte die Sperrung durch die Behörde dermaßen dilettantisch und inkonsequent, dass es Telegram ein Leichtes war, den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Einschüchterung von Opposi­tionellen

2020 wurde die Sperrung wieder auf­gehoben; es schien, als hätten sich die Machthaber einen Fehltritt geleistet. Die russische Regierung gab an, Telegram habe zugestimmt, beim Kampf gegen »Extremismus« und Terrorismus mit ihr zu kooperieren.

Auch wenn sich, wie derzeit in Frankreich, zum Zweck der Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung stichhaltige Gründe finden lassen, Plattformen wie Telegram dazu zu zwingen, die private Kommunikation von Nutzern in einzelnen Fällen an Behörden weiterzugeben, ging es dem Kreml vorrangig um die Einschüchterung von Opposi­tionellen.

Denn diese wussten sich Telegram schnell zunutze zu machen. Schließlich ermöglicht es der Messaging-Dienst nicht nur, privat zu kommunizieren, sondern auch, über öffentlich zugängliche Kanäle ein großes Publikum zu erreichen. Blogger, Personen des öffentlichen Lebens und Me­dien kommunizieren so direkt mit ihrem Publikum. Insbesondere seit der umfassenden russischen Invasion der Ukraine 2022, in deren Zuge die staat­liche Zensur weiter verschärft wurde, dient Telegram als zentrale Plattform für kremlkritische Berichterstattung. Während immer mehr Websites in Russland blockiert sind, lassen sich die entsprechenden Inhalte auf Telegram nach wie vor abrufen.

Kommunikation des rus­sischen Militärs

Kein Wunder also, dass sich nach Durows Festnahme reihenweise Fürsprecher für ihn fanden, die seine Freilassung forderten. Diese kamen jedoch keineswegs nur aus der Opposition. Auch zahlreiche russische Regierungsvertreter und nationalistische Militärblogger gaben vor, mit Durows Festnahme durch ein westliches Land die freie Meinungsäußerung in Gefahr zu sehen. Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedjew, schrieb auf seinem Telegram-Kanal, Durow habe einen Fehler gemacht, als er Russland verlassen habe, und solle zurückkehren.

Die russische Regierung dürfte allerdings weniger die Sorge um Durow umtreiben als die Befürchtung, dieser könnte westlichen Geheimdiensten direkten ­Zugang beispielsweise zur Kommunikation des rus­sischen Militärs verschaffen. Denn russische Einheiten benutzen Telegram in großem Maßstab an der Front, um miteinander zu kom­munizieren.

Darüber hinaus hat die russische Regierung in den vergangenen Jahren reichlich investiert, um Telegram für eigene Zwecke zu nutzen. Über die Plattform wird gezielt Propaganda gestreut und auf verschiedene Zielgruppen zugeschnittene Kanäle konterkarieren Antikriegspositionen. Wenn jetzt aus dem Kreml zu hören ist, es stehe nicht zur Debatte, Te­legram erneut zu blockieren, klingt das deshalb durchaus glaubhaft.

Seit 2014 war Durow 50 Mal in Russland

Trotz Durows vergangener Konflikte mit den russischen Behörden wäre es auch gefährlich, sich darüber Illusionen zu machen, dass sich diese keinen Zugang zu Telegram-Inhalten verschaffen könnten. Nur die sogenannten geheimen Chats, die kaum jemand nutzt, bieten bei Telegram eine Nutzer-zu-Nutzer-Verschlüsselung.

Und wie sich kürzlich aus geleakten Informationen des für den Grenzschutz verantwortlichen russischen Inlandsgeheimdiensts FSB ergab, könnte Durow bei den Auseinandersetzungen mit den russischen Behörden weitaus mehr Kompromissbereitschaft an den Tag gelegt haben als bislang zugegeben: Zumindest stellte sich nun heraus, dass er, obwohl er nach eigenen Angaben seit 2014 im Exil lebt, bis 2021 nicht weniger als 50 Mal zurück in sein Geburtsland gereist war.