Auf großer Sandale

Der »Alexander«-Mythos im Kino, in der Forschung und im Feuilleton. von philipp steglich

Einen Tag vor Weihnachten kam der Film »Alexander der Große« endlich auch in die deutschen Kinos. Der neueste Blockbuster, eine 150 Millionen-Dollar-Produktion des auf politisch äußerst kontrovers diskutierte Themen (»JFK«, »Natural Born Killers«) spezialisierten Regisseurs Oliver Stone, war lange erwartet worden. Denn die Verfilmung des Lebensweges des makedonischen Feldherrn Alexander galt als Chance für Stone, um eine eigene Interpretation der Geschichte zu liefern und mit einer kritischen Darstellung der historischen Ereignisse den Machthabern der Jetztzeit ordentlich einen mitzugeben, vornehmlich dem wiedergewählten US-Präsidenten. Die Gestalt Alexanders bietet sich an, weil sein Leben, ein einziger Feldzug, einerseits ausgiebig dokumentiert ist, es dabei aber andererseits so viele Lücken in der Forschung gibt, dass genügend Spielraum für eine eigene Interpretation besteht. So sind viele Quellen nicht im Original erhalten, und was später überliefert wurde, ist oft unsicher oder tendenziös.

Alexander der Große (356 bis 323 v.u.Z.) wurde bereits in jungen Jahren zum makedonischen König gekrönt, einte Griechenland, überfiel und besiegte Persien und zog mit seinem Heer bis nach Indien, um auf dem Rückweg zu sterben. Er war Herrscher über das erste Weltreich, über die seinerzeit – den Griechen – bekannte Welt. Da liegen die Bezüge zur Gegenwart auf der Hand.

Und in der Tat lässt Stone anhand einiger Versatzstücke durchscheinen, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen kennt: Wenn Alexander die makedonischen Truppen vor der Schlacht gegen die Perser bei Gaugamela einschwört, die Makedonen würden als freie Männer für die Freiheit gegen einen Despoten kämpfen, dann wird hier die Analogie zum letzten Irakkrieg überdeutlich. Eineinhalb Filmstunden später versinkt die makedonische Phalanx im Dauerregen und Morast des indischen Dschungels und, aha, das Vietnamtrauma ist da. Zumal die Kamera die Bilder in eindrucksvollen LSD-Farben ersaufen lässt.

Ansonsten schildert Oliver Stone Alexanders Feldzug als Flucht vor der Mutter und vor dem ödipalen Konflikt. Weil seine Mutter seinen Vater hat ermorden lassen und ihm im Knabenalter den Floh von der Weltherrschaft ins Ohr setzte, muss Alexander sich ruhe- und rastlos mit 100 000 Mann durch die Welt morden. Schuld war nur die Mutter – aus deren Kleinfamilie und deren ödipalen Dreieck er zu fliehen versucht, um einmal eine Grenze zu finden, die der tote Vater ihm nicht mehr setzen kann. Oliver Stone schreibt Welt- als reine Familiengeschichte.

Und ja, auch der ein halbes Jahr zuvor gezeigte Film »Troja« des deutschen Regisseurs Wolfgang Petersen interpretierte den trojanischen Krieg als Konflikt zwischen dem Griechen Achill mit potenzieller Kleinfamilie und dem Trojaner Hektor mit bereits realisierter Kleinfamilie. Hektor tauchte daher gern mit kunstvoll gewickeltem Thronfolger im Arm auf.

Lediglich der den Auftakt für den neuerlichen Reigen der Sandalenfilme bildende, mit mehreren Oscars prämierte Blockbuster »Gladiator« von Regisseur Ridley Scott aus dem Jahr 2000 vermied äußerst konsequent eine solche Kleinfamilienkonstellation, die Inhalt und Tempo des Streifens gründlich reduziert hätte: Frau und Kind des Gladiators, letztgenannter überzeugend dargestellt von Russell Crowe, wurden im vorderen Drittel der Erzählung von der Soldateska der Gegenpartei gelyncht. Eine blutrünstige, wenn man die nachfolgenden, sich am Familienbild mühsam abarbeitenden, vermurksten Sandalenfilme betrachtet, jedoch dramaturgisch richtige und saubere Lösung.

Selbst der Kampfgefährte und langjährige Freund und auch Geliebte des bisexuellen Alexander, Hephaistion, wird bei Stone nicht als ebensolcher dargestellt, sondern als eine Arte gute Mutter zum Mitnehmen auf die Reise: ein Mensch mit einer Brust zum Anlehnen, der verzeiht und Mut spendet.

Stone weigert sich, eine politische Deutung zu liefern; konsequenterweise wird eine immens wichtige Begebenheit im Film unterschlagen: die Massenhochzeit von Susa. Alexander heiratete, auch als eine Art Resümee seines Feldzuges, die Tochter des vormaligen Perserkönigs Dareios. Er forderte auch seine makedonischen Soldaten auf, persische Frauen zu heiraten oder die schon eingegangenen Verbindungen offiziell zu festigen. Ihnen allen versprach er, die Kosten für die Brautgeschenke zu tragen und die Kinder zu makedonischen Kriegern zu erziehen.

Diese Geste wird gern als geschickte machtpolitische Handlung interpretiert. Dabei wirft diese Begebenheit, zumal für die deutsche Forschung, einige interessante Fragen auf. In der Zeit des Nationalsozialismus entwickelten völkisch gesinnte Professoren an der Gestalt Alexanders ihre Führerphantasien; das Universitätsfach »Alte Geschichte« befand sich im »Kriegseinsatz«. Eine der Koryphäen des Fachs, Helmut Berve, durfte 1934 im nagelneuen nationalsozialistischen Rundfunk über Alexander schwadronieren. Denn natürlich galt der Kriegsherr als Vorbild: sein Drang nach Osten, sein uneingeschränkter Führungsanspruch und sein Feldzug, der ohne Niederlage blieb. Berve bezeichnete die Hochzeit von Susa als die versuchte »Verschmelzung der beiden Herrenvölker« und räumte Zweifel seiner Kollegen an der rassischen Eignung der Orientalen aus dem Weg: »Wohl ist die Bevölkerung Irans in sich mannigfach differenziert gewesen, aber daran, dass sie rassisch im wesentlichen arisch war und sich scharf von der vorwiegend semitischen Bevölkerung der westlichen Länder abhob, kann kein Zweifel bestehen.«

In Alexanders Makedonen erblickte er »ein gesundes kraftvolles Bauernvolk«, welches von »den griechischen Stämmen« derjenige sei, »der die indogermanischen, fast möchte man sagen germanischen Wesenselemente am reinsten bewahrt hatte«.

Die Makedonen werden also tüchtig »vernordet«. Und so weiß man auch, warum die FAZ in einer Rezension zu Stones »Alexander« von einer »hellenischen Leitkutur« sprechen kann, während der Spiegel die Verbrechen und Untaten Alexanders aufzählt, um die Rezeption jenseits des europäischen Kontinents auseinanderzunehmen: »Vielen angelsächsischen Forschern scheint all das verzeihlich. Sie betrachten die Taten des Makedonen gern durch die Brille britischer und amerikanischer Hegemonialpolitik – als wäre er der Urvater des Commonwealth.« Natürlich, das deutsche Magazin wirft den Angloamerikanern (Kolonien! Indianer!) Großmachtphantasien vor und nennt diese noch einmal »baren Unsinn«, während es an keiner Stelle auf die deutsche, zumal auf die großdeutsche Interpretation Alexanders eingeht.