Der Schrei aus dem Norden

In Europa war Schweden das am stärksten von der Flutwelle betroffene Land. Nun bemüht man sich um die Aufarbeitung der Katastrophe. von bernd parusel, stockholm

Mit dem berühmten Bild »Der Schrei« des norwegischen Expressionisten Edvard Munch illustrierte die schwedische Zeitung Dagens Nyheter am 2. Januar einen Rückblick auf das Jahr 2004. Das Motiv scheint gut gewählt, symbolisiert das Gemälde doch wie kaum ein anderes Furcht und Entsetzen, und damit die Gefühle, die seit der Flutwelle an Weihnachten bis nach Nordeuropa gelangt sind und von Trauer um die Todesopfer begleitet werden. Am kommenden Sonntag wollen die Premierminister Schwedens, Norwegens und Finnlands, Göran Persson, Kjell Magne Bondevik und Matti Vanhanen nach Thailand reisen, unter anderem um der lokalen Bevölkerung der Urlaubsorte, in denen Touristen aus dem Norden ihr Leben verloren, für ihre Hilfe zu danken.

Für alle drei Länder ist der asiatische Tsunami eine der folgenschwersten Naturkatastrophen ihrer Geschichte. Nach bisherigen Zählungen kamen in Thailand 15 Finnen ums Leben, rund 180 werden noch vermisst. Norwegen hat 16 tote sowie mindestens 90 verschollene Landsleute zu beklagen, und Premierminister Bondevik sprach von der »schlimmsten Katastrophe« für sein Land seit dem zweiten Weltkrieg. Am härtesten traf die Flut aber Schweden:Bislang wurden 52 Todesopfer gezählt, 637 »dauerhaft vermisste« Personen sowie weitere rund 1 200 Menschen, deren Schicksal noch ungeklärt ist. Für ein Land mit nur neun Millionen Einwohnern, das anders als seine Nachbarn im Zweiten Weltkrieg kaum zu leiden hatte, ist dies ein harter Schlag. Seit einer Schlacht im Jahr 1709, während des »großen nordischen Krieges«, sind nicht mehr so viele Schweden auf einmal gestorben.

»Noch nie war der Schritt in ein neues Jahr schwerer«, sagte Ministerpräsident Persson an Silvester. Das schwedische Fernsehen strahlte am Abend des Neujahrstages Wohltätigkeitssendungen aus, mit denen viel Hilfsbereitschaft hervorgerufen wurde. Am zweiten Januar hatte die schwedische Bevölkerung bereits fast 40 Millionen Euro für Nothilfe in den betroffenen Gebieten gespendet. In den schwedischen Botschaften Sri Lankas und Indonesiens wurden zudem Kleider, Geräte und Spielzeug abgegeben.

Im Mittelpunkt der Berichterstattung von Presse und Fernsehen steht jedoch nicht die fast vollständig zerstörte indonesische Provinz Aceh, sondern Thailand, das in den letzten Jahren zu einem beliebten Reiseziel schwedischer Urlauber wurde, vor allem während der Wintermonate. Rund 100 000 Schweden, von ganzen Familien bis hin zu Sextouristen und Backpackern, reisen jedes Jahr nach Phuket, Khao Lak oder auf die Phi-Phi-Inseln, viele leben sogar dauerhaft dort. Als nun Strände überrollt und Hotelanlagen zerstört wurden, waren nach Schätzungen mehr als 10 000 in der Gegend. Fast alle, die das Unglück überlebten, wurden inzwischen wieder zurück nach Schweden gebracht.

Die Regierung in Stockholm versucht nun, mit Betreuung der Hinterbliebenen, einer aufwendigen Identifizierung von an Ort und Stelle verbliebenen Leichen sowie umfangreichen Hilfszusagen an die betroffenen Länder Vertrauen wieder zu gewinnen, das sie in den ersten Tagen nach der Flut in den Augen vieler Schweden verspielt hatte. Die Behörden hätten das Ausmaß der Katastrophe zu spät erkannt und chaotisch darauf reagiert, wird insbesondere Außenministerin Laila Freivalds entgegengehalten. Der frühere Reichstagsabgeordnete Bo Södersten warf ihr Zynismus vor und forderte, nicht als einziger, ihren Rücktritt. Am 26. Dezember, dem Tag des Unglücks, sei im Außenministerium nichts geschehen, sagt Södersten. Die Telefonzentrale war unterbesetzt und brach angesichts von immer mehr Anrufen besorgter Bürger nach kurzer Zeit zusammen. Die Ministerin ging am Abend ins Theater, als sei nichts gewesen, und hochrangige Mitarbeiter, die sie hätten vertreten können, waren im Urlaub.

Auch von Ärzten kommt Kritik. Schweden fehle ein allzeit einsatzbereiter Krisenstab, der Katastrophen schnell beurteilen und Gegenmaßnahmen ergreifen könne, monierten Chefärzte des Universitätsklinikums in Uppsala. Hilfsteams und Mediziner seien viel zu spät ins Katastrophengebiet entsandt worden, während verschiedene Krankenhäuser zu Hause in Schweden schon am 27. Dezember ihren regulären Betrieb zurückfuhren, um Kapazitäten für die Opfer der Flutwelle frei zu machen, die dann aber erst Tage später eintrafen. Während andere europäische Länder bereits am Tag nach der Katastrophe begannen, Urlauber wieder nach Hause zu holen, landeten die ersten verletzten Schweden erst am Neujahrstag wieder in ihrem Herkunftsland.

Manche halten derlei Kritik jedoch für überzogen und sehen die Außenministerin zum Sündenbock für eine Katastrophe gemacht, für die eigentlich niemand etwas kann. Wenn weltumspannende Mediennetzwerke wie die britische BBC am 26. Dezember noch vage von einem »Erdbeben bei Sumatra« mit rund 7 000 Opfern berichteten – wie hätte Laila Freivalds da am selben Abend schon schlussfolgern sollen, dass möglicherweise mehrere hundert Schweden umgekommen sind, fragt etwa der Politikwissenschaftler Lars Nord.

Eine Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem Beschluss der Regierung, Listen vermisster Personen nicht zu veröffentlilchen. Aus Datenschutzgründen und weil Einbrecher die Häuser von Vermissten aufsuchen könnten, hielten Außenministerium und Polizei die Namen zunächst geheim und gaben sie erst am Silvestertag an die Herkunftsgemeinden der Verschollenen weiter. Finnland und Dänemark hatten ähnliche Listen ins Internet gestellt und damit erreicht, dass die Vermisstenzahlen schnell reduziert werden konnten, als sich Urlauber, die auf eigene Faust zurückgereist waren, bei den Behörden meldeten.

Nun, da sich der erste Schock langsam legt, wird in den schwedischen Medien mehr und mehr auch darüber diskutiert, was bei zukünftigen Naturkatastrophen unternommen werden könnte. Dabei gibt es bisher nicht viel zu sagen, außer dass Frühwarnsysteme eingerichtet werden müssten und auf Katastrophen schneller und gezielter reagiert werden müsse, am besten nicht nur auf nationaler, sondern auch auf EU-Ebene.

Was aber kann gegen Plattenverschiebungen, Seebeben oder Vulkanausbrüche helfen? »Technische Lösungen, mit denen die Menschen ein für alle Mal von den Kräften der Natur befreit würden, werden wir nie erwarten können«, schrieb dieser Tage der Professor für Umweltgeschichte Sverker Sörlin in einem Beitrag für Dagens Nyheter. Das einzige, was man tun könne, sei, »funktionierende Gemeinwesen« aufzubauen. Wie dies möglich ist, wie man also solidarische Gesellschaften entwickelt, die Notsituationen auffangen oder wenigstens lindern können, darüber kann nun weiter debattiert werden – auch unabhängig vom Tsunami, und nicht nur im Norden.