Solidarisch nähen

Für die meisten Beschäftigten in Brasilien ist die Beteiligung an Kooperativen eine ökonomische Notwendigkeit. Beim WSF ist die »solidarische Wirtschaft« jedoch auch Thema politischer Debatten. von astrid schäfers, são paulo

Catende – der Name der 1993 pleite gegangenen Zuckerfabrik ist identisch mit dem Ortsnamen. Nach dem Bankrott arbeiteten die Gewerkschaften und die Vereinigung der Landarbeiter von Pernambúco (Fetape) auf die Weiterführung der Produktion hin. Denn außer der Catende gab es in Pernambúco im Nordosten Brasiliens kaum Arbeitsplätze. Man ist hier froh, überhaupt eine Beschäftigung zu haben und überleben zu können.

Die Catende ist heute die größte Kooperative Brasiliens, die das Konzept der »solidarischen Wirtschaft« verfolgt. Zur Erntesaison sind auf den Feldern rund 1 200 ArbeiterInnen beschäftigt, in der Fabrik arbeiten etwa 200. Das 1998 ins Leben gerufene Projekt Harmonia organisiert die Ausbildung der Kinder der ArbeiterInnen in einer eigenen Schule sowie die Diversifizierung der Landwirtschaft. Heute, 16 Jahre nach dem Bankrott, ist das Konkursverfahren immer noch nicht abgeschlossen.

Bei der feierlichen Versammlung der Kooperative Catende am 17. Dezember jubelten die ArbeiterInnen den Koordinatoren des Projekts und den Gewerkschaftern zu. Dann endete die Versammlung ziemlich abrupt. Als die entlassenen ArbeiterInnen erfuhren, dass sie eine Entschädigung erhalten würden, machte sich der Großteil auf den Heimweg.

Zum Programm der Kooperative gehört auch politische Bildung. Beim dreitägigen Kurs über »solidarische Wirtschaft« zeigten sich viele der RepräsentantInnen der Fabrik und der FeldarbeiterInnen sehr interessiert. Auf die Frage, was er bei dem Kurs über solidarische Ökonomie gelernt habe, meint der 64jährige, fast zahnlose Arbeiter Ze Miguel: »Die Pariser Kommune hat mir gut gefallen.« Das Heft über »solidarische Wirtschaft«, das die ArbeiterInnen für den Kurs erhalten haben, trägt er zwar jeden Morgen zum Kurs. Lesen kann er aber, wie viele andere ArbeiterInnen, kaum. Und die Pariser Kommune ist für ihn eine abstrakte Idee, weit weg von den bis zum Horizont zu sehenden Zuckerpflanzen, weit weg von der pernambukanischen Steppe.

Die Selbstverwaltung in Brasilien war immer schon in der Landwirtschaft stärker ausgeprägt als in den Fabriken, und die Steppe ist auch der Ort, wo die Idee der »solidarischen Wirtschaft« entstand. Produktionsgenossenschaften, so genannte mutirões, entstanden bereits im 17. und 18. Jahrhundert, als es einigen Bauern nicht gelang, ihre Ernte allein einzubringen. Die mutirão sah die Teilung der Erträge vor. Die Prinzipien der Genossenschaften stimmen mit den Prinzipien der Kooperativen der »solidarischen Wirtschaft« weitgehend überein. Im Vordergrund stehen die gemeinsame Verrichtung der Arbeit und Verwaltung und die Beteiligung eines jeden Mitglieds an allen Entscheidungen.

Die ersten mutirãos wurden gegründet, weil sie ökonomisch notwendig waren. Auch die meisten Kooperativen entstehen, weil es an Arbeitsplätzen fehlt, und sie etablieren sich meist in Sektoren, die wenig moderne Technologie erfordern, wie etwa im Nähhandwerk.

»Ich erhalte monatlich eine Rente von 800 Réais (umgerechnet etwa 225 Euro), davon zahle ich 650 Réais für die Miete. Die restlichen 150 und die Rente meines Mannes gehen für Medikamente drauf, denn er ist schwer krank. Wenn ich hier nicht die Röcke besticken würde, hätte ich gar nichts mehr übrig«, erklärt Jonice, Stickerin der Näherinnenkooperative Costurart in Santa Cruz, einer heruntergekommenen Vorstadt von Rio der Janeiro. Hier arbeiten vor allem junge Frauen aus der Gemeinde und über 50jährige Frauen, die zuvor arbeitslos waren.

»Ich habe im Fernsehen von der Kooperative erfahren und bin spontan hierher gekommen«, erzählt Jonice weiter. Auch wenn die Vergütung unregelmäßig und gering ist, abhängig von der Menge verkaufter Kleidungsstücke, ziehen die jungen Frauen die Kooperative einer Nähfirma vor. Die Arbeitsverhältnisse sind flexibler und können den Bedürfnissen der Mitglieder angepasst werden. »Ich arbeite vor allem zu Hause an meiner Nähmaschine, denn ich habe zwei Kinder«, erzählt Silvania. Costurart wird von einer Einrichtung zur Förderung »solidarischer« Kooperativen der Universität von Rio de Janeiro betreut. »Das Schwierigste ist für uns aber der Verkauf. Wir haben keine festen Abnehmer«, erklärt die Koordinatorin Claudia.

Für die meisten Beschäftigten ist die Beteiligung an der »solidarischen Wirtschaft« eine pragmatische Entscheidung. Die Forderungen von Teilen der globalisierungskritischen Bewegung und der Amtsantritt einer von dem sozialdemokratischen PT geführten Regierung unter Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva, von der sich viele eine Unterstützung linker Initiativen erhofften, machten die »solidarische Wirtschaft« zu einem Thema der politischen Debatte.

Die »solidarische Wirtschaft« ist inzwischen fester Bestandteil des Weltsozialforums in Porto Alegre und Thema zahlreicher Veranstaltungen. Viele GlobalisierungskritikerInnen sehen die Kooperativen als Alternative zum »neoliberalen Kapitalismus«.

Nach langem Hin und Her hat sich Präsident Lula schließlich entschieden, am Sozialforum teilzunehmen. Seine Anwesenheit als »Gast« des internationalen Netzes zur Armutsbekämpfung Global Call to Action Against Poverty zeugt von einer Politik, die lediglich die Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bekämpft und diese allein als Verteilungsproblem sieht. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos, an dem Lula ebenfalls teilnimmt, will er auf die Einrichtung eines internationalen Fonds für Armutsbekämpfung drängen.

Die Distanz der brasilianischen Regierung zu den sozialen Bewegungen und zu Linken, denen es nicht nur um eine etwas gerechtere Verteilung des Kuchens geht, hat sich im vergangenen Jahr vergrößert. Keine der Forderungen des vorigen Weltsozialforums, das im Jahr 2003 in Porto Alegre stattgefunden hat, ist in Brasilien durchgesetzt worden. Weder die Forderung nach Kapitalverkehrskontrollen, noch die der Verweigerung der Zahlung der Staatsschulden oder das Verbot genmanipulierten Saatguts.

Die wachsende Zahl von Besetzungsaktionen der Landlosenbewegung MST bereitet der Regierung Unbehagen. Und mit marktwirtschaftlichen Lösungen zu Lasten des öffentlichen Sektors wie etwa der Rentenreform, die Rentenkürzungen im öffentlichen Sektor und die Schaffung privater Pensionsfonds vorsieht, machte sich die Regierung auch die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes zu Feinden. Die Demonstrationen vieler Gewerkschaften im Dezember in Brasilia für eine Erhöhung des Mindestlohns blieben erfolglos. Entgegen ihren Forderungen wurde lediglich eine sehr geringe Erhöhung entsprechend dem Vorschlag der Zentralbank festgesetzt.

Möglicherweise werden die Differenzen jedoch wegen der Angriffe der Konservativen an Bedeutung verlieren. Porto Alegre wurde lange vom PT regiert, der dem WSF wohlwollend gegenüber stand. Die vor kurzem gewählte konservative Stadtregierung unter José Fogaça hat eine Medienkampagne gegen das Treffen gestartet, Vizebürgermeister Eliseu Santos bezeichnete das WSF als »Treffen von Terroristen, Drogenhändlern und Geiselnehmern«.