Selbstbewusst in der Mitte

Zur Geschichtspolitik in der Berliner Republik. von richard gebhardt

Kurz vor den zentralen Veranstaltungen zum Gedenkjahr 1995 rüstete die »Neue Rechte« um den Publizisten Rainer Zitelmann (FDP) zusammen mit dem Stahlhelmflügel der Union zum letzten Gefecht im Kampf um die Deutungsmacht über den 8. Mai. Mit Aufrufen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel »8. Mai 1945 – Gegen das Vergessen« sorgte die Gruppe für einige Aufregung, doch gleichzeitig formierte sich eine breite Abwehrfront, die bis ins liberal-konservative Milieu reichte. Allen Versuchen, die deutschen Opfer des Krieges mit den Leichen der Konzentrations- und Vernichtungslager zu vermengen, gelte es entgegenzuwirken, hieß es damals. Von der deutschen Verantwortung für Krieg und Vertreibung dürfe nicht abgelenkt werden, der 8. Mai 1945 sei im Ergebnis ein »Tag der Befreiung«.

In der Ära Helmut Kohls waren Auffassungen wie diese im konservativen Lager viel heftiger umstritten als heute. Liberale Intellektuelle warnten damals vor einem »Extremismus der Mitte«, der etwa von dem kurzzeitig als Kandidat für die Bundespräsidentschaft gehandelten Steffen Heitmann (CDU) ausgegangen sei. Der damalige sächsische Justizminister, der mit relativierenden Äußerungen über die »Singularität des Holocaust« für Aufsehen gesorgt hatte, galt als reaktionäre Symbolfigur der deutschen Konservativen.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass in diesem Jahr, da sich das Kriegsende zum sechzigsten Mal jährt, ähnliche Kontroversen zu erwarten sind. Der Terminus »Befreiung« hat längst Einzug in den offiziellen Sprachgebrauch gehalten, und die Rede von der »Singularität der Shoah« ist eine allgegenwärtige rhetorische Figur auch in der Unionsfraktion. Der einst als Gefahr für die Demokratie beschworene Kreis um den nationalliberalen Rainer Zitelmann spielt faktisch keine Rolle mehr.

Trotzdem sind die damals noch heftig umstrittenen Ansichten in abgewandelter Form in den Diskurs des Mainstreams eingesickert – getragen aber nicht von einem rechten Netzwerk, sondern von Protagonisten, die einst der Linken zugeordnet wurden. Günter Grass etwa beklagt die Opfer der Wilhelm Gustloff, Jörg Friedrich die Opfer des Bombenkrieges gegen die Deutschen, und der SPD-Politiker Peter Glotz die Opfer der Vertreibung. Trotz des Redens von der »Befreiung« und der »Singularität der Shoah« ist der deutsche Opferstatus zu einer politischen Schlüsselkategorie geworden, die mit Konzessionen an den »antifaschistischen« Sprachgebrauch verbunden ist. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären?

Geändert hat sich zwischen 1995 und 2005 zunächst die politische Geschäftsgrundlage. Eine neue, von Verstrickungen in den Nationalsozialismus unbelastete Generation besetzt die Regierungsbänke. Deutschland führt wieder Krieg und wird nach den Worten des Verteidigungsministers Peter Struck (SPD) »auch am Hindukusch« verteidigt. Während der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) die Bundeswehr niemals dort einsetzen wollte, wo die Wehrmacht ihre Stiefel hingesetzt hatte, wurde unter rot-grüner Regentschaft die Erinnerung an die Shoah zur Legitimierung aktiver Kriegsunterstützung instrumentalisiert. Joschka Fischers Ersetzung des Spruches »Nie wieder Krieg« durch »Nie wieder Auschwitz« bildete das Leitmotiv der deutschen Unterstützung der Nato-Angriffe auf Jugoslawien im Jahr 1999. Nicht Verdrängung, Relativierung oder Abwehr, sondern die opportune Nutzung der nationalsozialistischen Vergangenheit kennzeichnen seither den Umgang mit der NS-Geschichte.

Bestimmt wird dieser Prozess von einer Generation, welche die Modernisierung und Zivilisierung der deutschen Gesellschaft für sich reklamiert. Der Austritt aus der postfaschistischen Konstellation, die »Normalisierung« Deutschlands rechnet sie sich als Verdienst an. Auschwitz wird nicht nur zum »singulären Verbrechen«, sondern zum vielfältig verwendbaren Geschichtszeichen, welches als normative Grundlage und Handlungsmotor der Politik dient.

Jedoch folgt diese rot-grüne Geschichtspolitik nicht einem linearen Muster, das von einer Zentralkommission zur Durchsetzung handfester Interessen verordnet wird. Die Debatten werden auch vom Publikum aufgenommen und verändert. Der aktuelle Opferdiskurs ist nicht zuletzt eine Reaktion der Öffentlichkeit auf die geschichtspolitischen Debatten Mitte der neunziger Jahre. Kamen in der Auseinandersetzung um den Vernichtungskrieg der Wehrmacht auch die »Verbrechen des Jedermann« (Jan Philipp Reemtsma) zur Sprache und richtete Daniel Jonah Goldhagen den Blick auf »ganz gewöhnliche Deutsche« und ihre Rolle im Holocaust, ist das heute verbreitete Selbstbild als Opfer eine willkommene Entlastung.

Nicht mehr die individuelle Verantwortung unter der Diktatur, die aktive Teilhabe der Volksgenossen und Parteimitglieder an der nationalsozialistischen Terrorherrschaft steht heute im Zentrum der Debatte. Betont wird die passive Rolle als Leidtragende von Bombenkrieg und Vertreibung. Dabei wird der politische Opferdiskurs begleitet von der neuesten deutschen Ideologie im Kulturbetrieb, der Emotionalisierung und Entpolitisierung des Alltags im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. In Sönke Wortmanns Film »Das Wunder von Bern« wird ein deutscher Kriegsheimkehrer einer derart ergreifenden Läuterung unterzogen, dass selbst der Kanzler bei der Aufführung geweint haben soll. Im Film »Der Untergang« wird Adolf Hitler zur einsamen und tragischen Figur, während für das bis zur letzten Stunde treue deutsche Volk der Opfergang noch nicht beendet ist.

In dieser deutschen Kriegsgräberfürsorge auf Zelluloid wird der deutsche Faschismus zum Mikrokosmos, in dem der Krieg von der Vernichtung der europäischen Juden und der eigenen Verstrickung und Mitwisserschaft entkoppelt wird. Je öfter »der Führer« in Farbe auf dem Bildschirm gezeigt wird, desto verschwommener wird, als Folge dieser »Knoppaganda« (Willi Winkler), das Bild, das von ihm und seinen Vollstreckern existierte.

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wird so entbunden von den konkreten Interessen, Triebkräften, Zusammenhängen und deutschen Zuständen. Übrig bleibt ein vielstimmig beschworener Kanon von Formeln und Sprechblasen für Broschüren und Sonntagsreden. Die Lehren aus der Geschichte werden zur beliebigen Größe, mit der sich »humanitäre Interventionen« ebenso wie deren pazifistische Ablehnung begründen lassen.

Auch die Bombardierung Dresdens wird in diesen Tagen nicht als Mahnung an die Konsequenzen faschistischer Aggression interpretiert, sondern als überhistorische Chiffre menschlicher Barbarei gehandelt. Die Frauenkirche wird zum Symbol kriegerischer Zerstörung, das Leid der Zivilbevölkerung zum Sinnbild für die Zerstörungswut des alliierten Bombenkriegs. Die NPD beklagt den »Bombenholocaust«, und Jörg Friedrich den »mongolischen Vernichtungsorkan« der Alliierten.

Je stärker die Shoah sowie der Vernichtungskrieg und seine Folgen als überhistorische Universalkategorien, d.h. als leere Begriffshüllen verhandelt werden, desto bedeutungsloser wird die rhetorische Figur von der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen.