Die rote Linie

US-Politik und Demokratisierung von jörn schulz

»Die Bush-Administration hat eine paradoxe Position zu den syrischen Menschenrechtsverletzungen eingenommen«, urteilte Human Rights Watch. »Sie hat eine Reihe von Sanktionen ›als Antwort auf die evidente syrische Unterstützung des internationalen Terrorismus‹ aufrechterhalten.« Andererseits gebe es »viele Berichte über Sicherheitsdebatten zwischen Syrien und den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr« und »inoffizielle Gespräche« auf Geheimdienstebene.

Der Bericht erschien 1989. Zu dieser Zeit verhandelte die US-Regierung, die bereits 1976 im »red line agreement« einer begrenzten syrischen Intervention im Libanon zugestimmt hatte, mit dem syrischen Diktator Hafez al-Assad über Wege zur Beendigung des Bürgerkrieges. Auch die syrische Dominanz im Libanon wurde anerkannt, Assad galt als Garant für die Stabilität des Landes.

Das Dogma der Stabilität, dem sein Vater folgte, hat George W. Bush durch Demokratisierungsrhetorik ersetzt. Doch die derzeitige US-Politik ist nicht weniger paradox. Die US-Regierung kritisiert syrische Menschenrechtsverletzungen, Syrien gehört jedoch auch zu jenen Ländern, deren Folterexperten von US-Behörden mutmaßliche al-Qaida-Mitglieder übergeben werden. Amnesty international dokumentierte den Fall Maher Arars, der in New York verhaftet, nach Syrien überstellt und dort ein Jahr lang gefoltert wurde.

Dieses Vorgehen setzt voraus, dass die US-Regierung darauf vertrauen kann, über das Ergebnis der Verhöre korrekt informiert zu werden, und kein Problem damit hat, Informationen über den islamistischen Terror mit dem syrischen Geheimdienst zu teilen. Zwischen zwei Staaten, die kurz vor einem Krieg stehen, wäre eine solche Zusammenarbeit kaum möglich.

Für Syrien schwebt der US-Regierung eine libysche und nicht eine irakische Lösung vor. Es wird erwartet, dass Assad unter dem anhaltenden Druck eine ähnliche Wende einleitet wie der libysche Staatschef, Muammar al-Gaddafi, im vergangenen Jahr. Eine beschleunigte Liberalisierung der Wirtschaft und der Rückzug aus dem Libanon sind die Hauptforderungen an Assad. Anders als in der Irak-Politik kann die US-Regierung auf die Unterstützung der EU und seit der vergangenen Woche auch Saudi-Arabiens zählen. Diese Konstellation spricht dafür, dass Assad ebenso wie Gaddafi auch ohne demokratische Reformen in den Schoß der »internationalen Gemeinschaft« zurückkehren darf.

Wenn sich der syrische Diktator dem Druck beugt, dürfte das die Dissidenten und Oppositionellen jedoch ermutigen. Auch die libanesische Protestbewegung nutzte die Chance, die ihr die Schwächung der syrischen Position bot. Die Beendigung der syrischen Dominanz ist eine Voraussetzung für die Demokratisierung, die jedoch auch einen Bruch mit dem konfessionellen Regime der »großen Familien« erfordert.

Einen solchen Bruch zu forcieren, wäre Sache der Linken, die sich jedoch nicht nur im Libanon durch ihre nationalistische und militaristische Politik isoliert hat und keine überzeugende Alternative zu den dominierenden Ideologien des Nationalismus, Liberalismus und Islamismus bieten kann. In Ägypten protestieren die Islamisten der Muslimbruderschaft gegen das Regime Hosni Mubaraks, und im Irak sind derzeit reaktionäre schiitische Geistliche die Profiteure des regime change. Das zeigt, dass der politische Wandel nicht immer emanzipatorische Bewegungen stärkt, beweist aber auch, dass die US-Regierung keine Kontrolle über diesen Wandel hat. Denn in einem Punkt hat US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Recht: »Freiheit ist unordentlich.«