»Ich sterbe nicht, bevor ich Damaskus gesehen habe«

Rafik Schami

Im Libanon fordert eine Massenbewegung mehr Demokratie und den Abzug der syrischen Truppen. Zu den hierzulande bekanntesten Kritikern der arabischen Staaten und Gesellschaften gehört der Schriftsteller Rafik Schami.

Der promovierte Chemiker wurde 1946 als Kind christlich-aramäischer Eltern in Damaskus geboren und floh 1971 aus politischen Gründen nach Deutschland. Schamis zahlreiche Romane und Erzählbände wurden in 22 Sprachen übersetzt, bislang aber nicht ins Arabische. Zuletzt erschien im Verlag Hanser sein Roman »Die dunkle Seite der Liebe«, eine Mischung aus Lovestory, Gesellschaftsroman, Familiensaga und Krimi (siehe auch Jungle World, 48/04). Mit Rafik Schami sprach Deniz Yücel.

In Ihrem letzten Roman ist das Beirut der fünfziger und sechziger Jahre der Ort, zu dem die Liebenden aus Damaskus flüchten. Könnte Beirut bald wieder zu einem freiheitlichen Ort werden?

Ich hoffe, dass Beirut wieder zu der offenen Stadt wird, als die sie mir in Erinnerung geblieben ist. Sie müssen wissen: Auch ich habe mich dort versteckt, bis ich die deutschen Einreisepapiere bekam.

Und jetzt ist die Möglichkeit da, dass sich der Libanon nach 20 Jahren von der Fuchtel Syriens befreit und zur Demokratie zurückfindet. Ich begrüße es, dass der Westen vernünftig reagiert und die Opposition unterstützt. Ich bin aber nicht so blauäugig zu glauben, dass die Syrer die Dinge einfach geschehen lassen werden. Auch im Libanon gibt es mörderische Kräfte. Ich vermute, dass das Land noch einige schmerzhafte Momente erleben wird, die die nächste Regierung mit Geduld auffangen muss. Sonst kehrt der Bürgerkrieg zurück.

Sind die alten Milizenführer, die nun die Opposition anführen, Hoffnungsträger?

Man muss natürlich vorsichtig sein. Aber man ist auf die vorhandenen Kräfte angewiesen und muss sie in die Verantwortung nehmen. Man kann nicht sagen: Ich arbeite nicht mit Kommunisten, ich arbeite nicht mit Muslimbrüdern, ich arbeite nicht mit Walid Jumblatt, der allen arabischen Herrschern in den Hintern gekrochen ist. Jetzt geht es darum, eine Demokratie aufzubauen und zu verhindern, dass wieder ein paar Sippen das Land beherrschen.

Wie reagieren die Menschen in Syrien auf die Entwicklungen im Nachbarland?

Manche möchten, dass ihre Kinder nach Syrien zurückkehren. Andere, die von der Okkupation profitieren, sind selbstverständlich dagegen. Dass sich die Stimmung im Libanon teilweise gegen die syrischen Arbeitsimmigranten wendet, liegt daran, dass sie als Mitglieder einer Besatzungsmacht gesehen werden, obwohl dort seit Jahrhunderten syrische Einwanderer leben. Nach dem Rückzug werden sich die Beziehungen zu Syrien aber normalisieren.

Kann die Bewegung im Libanon die syrische Gesellschaft beeinflussen?

Jüngst sagte der ehemalige syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlass im Spiegel, man könne das Land nur regieren, wenn man den Leuten Angst einjage. Bis zu 150 Menschen pro Woche hat er nach eigenen Angaben umbringen lassen. Der Mann scheint beweisen zu wollen, dass ich in meinen Büchern nicht übertreibe. Massenmörder wie Tlass haben es zu verantworten, dass unzählige junge Menschen in den Gefängnissen gebrochen oder ermordet wurden.

Nach der jahrzehntelangen Verfolgung ist die syrische Opposition arg geschwächt. Dennoch hat sie sich zu Beginn der Präsidentschaft Bashar al-Assads, als es zu einer zaghaften Liberalisierung kam, rasch formiert. Inzwischen sind die Verhältnisse so düster wie zu Zeiten des alten Assad. Aber die Ereignisse im Libanon sind ein Signal für die Region, selbst wenn in Syrien die Voraussetzungen für einen demokratischen Aufbruch schwierig sind. Einen Einmarsch der USA braucht niemand, das würde das Land zerstören und Terror anzetteln.

Deren Intervention im Irak haben Sie kritisiert, weil man Demokratie nicht mit Gewalt exportieren könne. Zeigen die Wahlen nicht, dass es doch geht?

Erstens bin ich nach wie vor gegen den Krieg und gegen die Besatzung. Mord und Totschlag haben im Irak nicht aufgehört. Zweitens: Ich bin froh, dass Saddam Hussein und sein verbrecherischer Clan ein für allemal verschwunden sind. Drittens: Die Amerikaner haben keine Demokratie in den Irak gebracht, sondern dubiosen Figuren wie Ahmed Challabi, Iyad Allawi und einer kleinen Elite zur Macht verholfen. Viertens: Die Wahlen sind mehr oder weniger sauber gelaufen. Aber was heißt das schon? Die USA hatten die Kontrolle, die Sunniten wurden ausgeschlossen oder haben sich selbst ausgeschlossen. Ihre Wahlbeteiligung lag bei etwa zwei Prozent. Das ist eine Farce. Trotzdem waren die Wahlen ein Schritt in die richtige Richtung und eine nützliche Übung. Eine Demokratie ist das aber noch nicht.

Die gibt es auch sonst nirgends in der arabischen Welt. Woran liegt das?

Das hat viele Ursachen. Aber das Grundübel der arabischen Gesellschaften ist für mich die Sippe – und nicht der Islam, wie ein verbreiteter Irrtum in der westlichen Welt lautet. Der Islam hat eine Weltzivilisation geschaffen. Die Rolle der Sippe aber hat sich in den arabischen Ländern seit Jahrhunderten nicht verändert. Die Sippe hat uns vor der Wüste gerettet, sie hat aber auch dazu geführt, dass sich das Individuum mit seinen Wünschen unterordnen musste. Jetzt leben wir nicht mehr in der Wüste, sondern in der westlichen Zivilisation.

Wie meinen Sie das?

Jede historische Epoche hat eine vorherrschende Zivilisation, und unsere ist seit der Französischen Revolution und dem technischen Fortschritt europäisch bestimmt. Diese Zivilisation kann sich in der arabischen Welt nicht durchsetzen, weil die Herrschaft der Sippe ungebrochen ist. Viele arabische Akademiker verlassen ihre Länder, weil sie keine Chance haben, wenn sie nicht zu den wichtigen Clans gehören. Und das ist auch einer der Gründe für den Terror in Arabien.

In den letzten Jahren hat sich die Sippenherrschaft verfestigt. Kürzlich gab es in Kairo Demonstrationen gegen Hosni Mubaraks Plan, seinen Sohn als Nachfolger einzusetzen. In Syrien ist dies Hafez al-Assad gelungen, in Libyen bereitet Muammar al-Gaddafi das gleiche vor. In anderen Ländern herrschen sowieso die Sippen; die Saudis haben einen ganzen Subkontinent nach ihrer Familie benannt.

Gibt es in arabischen Ländern Entwicklungen, die Sie positiv stimmen? Vielleicht unterhalb der politischen Ebene?

Es gibt solche Tendenzen, aber sie sind relativ ohnmächtig. Man kann die politische und die gesellschaftliche Ebene nicht voneinander trennen. Der Kampf gegen die Sippen und die Privilegien der herrschenden Clans ist eins mit dem Kampf um Demokratie.

Sie schreiben, dass Sie es als höchsten Literaturpreis empfinden, auf der schwarzen Liste der arabischen Regimes zu stehen, auch wenn es schmerzt.

Das richtete sich gegen die Arabische Liga, die mich auszeichnen wollte. Ich habe das abgelehnt. Dieser Verein von Diktatoren hat nicht über meine Literatur zu befinden. Und bevor die irgendwelche Literaturpreise verleihen, sollten sie meine Kollegen aus ihren Gefängnissen entlassen. Manche Deutsche, vor allem langweilige Übersetzer und idiotische Orientalisten, hatten aber keine Scheu, Preise von solchen Verbrechern entgegenzunehmen. Dennoch werden meine Bücher bald auf Arabisch erscheinen. Der tüchtige al-Kamel Verlag aus Köln will mein Gesamtwerk übersetzen und es legal im Libanon, in Bahrain und Marokko vertreiben, nur in diesen etwas liberalen Ländern scheint dies möglich. Und ich nehme an, dass es keine große Kunst ist, die Bücher von Beirut nach Damaskus zu schmuggeln.

Wann wird Sie einer Ihre vielen Lesereisen nach Damaskus führen?

Wenn in meinem Land Demokratie herrscht. Ich möchte meiner Frau und meinem Sohn zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Aber ich habe mich 35 Jahre lang geduldet, ich kann noch ein paar Jahre warten. Ich habe ein Abkommen mit Gott: Ich sterbe nicht, bevor ich Damaskus gesehen habe.