Regierungssturz, leicht gemacht

Nach dem Rücktritt der Regierung propagiert die libanesische Opposition die nationale Selbstbestimmung. Das konfessionelle Wahlsystem stellt sie nicht in Frage. von hannah wettig, beirut

Man demonstriere zwei Mal wöchentlich mit ein paar tausend Menschen und täglich mit ein paar hundert. Dazu stelle man noch ein gutes Dutzend Zelte mit jungen Leuten darin in die Mitte der Hauptstadt. Und siehe da: Nach zwei Wochen tritt die Regierung zurück.

Nie war ein Regierungssturz so einfach wie im Libanon. Gerechnet hätte damit niemand. Am Montag vergangener Woche, als der Premierminister, Omar Karami, seinen Rücktritt im Parlament erklärte, stand eigentlich ein Misstrauensvotum auf der Tagesordnung. Die Opposition hatte gehofft, dass sich viele der Stimme enthalten würden, aber wahrscheinlicher war, dass die Regierung das Votum unbeschadet überstehen würde. Denn die Loyalisten, wie die syrientreuen Politiker sich nunmehr nennen, halten die Mehrheit im Parlament – und dem Anschein zum Trotz wahrscheinlich auch in der Bevölkerung.

Obwohl Anhänger Karamis inzwischen bewaffnet in den Straßen seiner Heimat Tripoli demonstrierten, geht es in Beirut am Märtyrerplatz, den die Opposition in Freiheitsplatz umbenannt hat, friedlich weiter. Am Samstag kamen sie wieder in Scharen aus West und Ost: ganze Familien samt Kinderwagen, die rot-weiße Schärpe um den Hals gebunden. Dass die Demonstranten nun nicht mehr ihre Parteifahnen, sondern nur noch die Nationalflagge schwenken dürfen, zeigt Einheit. Doch es verschleiert auch, wer da nun eigentlich demonstriert.

Als ein Fernsehinterview mit General Aoun auf Leinwänden übertragen wird, jubelt die überwältigende Mehrheit der Demonstranten. Dass Anhänger Hariris oder gar Drusen sich nun dem exilierten maronitisch-christlichen General zuwenden, der am Ende des Bürgerkriegs zunächst konkurrierende Christenmilizen liquidierte und dann einen selbstmörderischen Krieg gegen die Syrer begann, ist allerdings unwahrscheinlich. Die religiöse Vielfalt ist nur noch auf der Rednertribüne gewährleistet, unten auf dem Platz dominieren die Christen. In dem Zeltlager übernachtet bereits seit Tagen hauptsächlich die christliche Jugend. Selbst das Grab des ermordeten ehemaligen Premierministers Rafik al-Hariri im Vorhof der großen Moschee ist mittlerweile umringt von Grablichtern mit Bildern der Jungfrau Maria und des Schutzheiligen der Maroniten, des heiligen Maron.

Am Rande der Kundgebung allerdings, dort, wo die ausländischen Fernsehteams ihre provisorischen Studios aufgebaut haben, steigt ein ganzes Dutzend Kopftuch tragender Frauen aus einem Bus. Als nach der Rede des syrischen Präsidenten die Nationalhymne aus den Lautsprechern ertönt, singen sie aus voller Kehle mit. Doch sie bleiben am Rand, nur einige von ihnen wagen sich kichernd in die Nähe der in der Mitte des Platzes versammelten Menge. Damit erhöhen sie den Anteil der Kopftuchträgerinnen in der Demonstration um fast 100 Prozent, bleiben aber eine kleine Minderheit im Vergleich zu den Frauen mit der neuesten Skibrillenmode, die in diesen Gesellschaftskreisen so beliebt zu sein scheint, dass sie auch bei Nacht getragen wird.

Eine Stunde lang haben die Demonstranten fast andächtig der Übertragung von Bashar al-Assads Rede über einen syrischen Abzugs gelauscht, nur ab und zu haben einige »Buh« gerufen. »Gesagt hat er nichts«, meint Joelle Petrakian, eine armenische Christin. »Man kann ihm ohnehin nicht glauben. Er behauptet, es stimme nicht, dass andere arabische Länder ihn unter Druck setzen.« Danach ruft ein Oppositionspolitiker in das Mikrophon: »Wir antworten mit einer Stimme: Freiheit, Souveränität, Unabhängigkeit.« Die Masse brüllt den Slogan, bis die Nationalhymne sie übertönt.

In Süden Beiruts, in den dicht besiedelten schiitischen Stadtteilen, unterstellt man den Demonstranten am Märtyrerplatz hingegen die schlechtesten Motive. »Sie verstecken ihre wahren Absichten und die sind, die Hizbollah zu entwaffnen«, zitiert die Beiruter Tageszeitung Daily Star einen Kaffeeverkäufer. Das sieht auch die Hizbollah-Führung so und verweigert sich weiterhin Gesprächen mit der Opposition. Ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah sieht die Lage jedoch gelassen. »Wenn sie die Syrer raus schmeißen, wer bitte schön soll uns denn dann entwaffnen?« sagte er in der vergangenen Woche in einer Rede.

Wenn die Opposition zurzeit zehntausende Menschen mobilisieren kann, muss das die Gottespartei nicht schrecken. Sie bringt jährlich 350 000 Gläubige zu ihrer Ashura-Prozession auf die Straße. Weitere hunderttausende Schiiten feiern das religiös-politische Fest ohne die Hizbollah, haben aber trotzdem nichts mit der Opposition am Hut.

Angesichts dieser Lage hat die Opposition tatsächlich noch nicht viel gewonnen mit dem Rücktritt Karamis. Wahrscheinlich hat der Spross einer alteingesessenen Politikerfamilie nur versucht, eine Eskalation zu vermeiden und trotzdem das derzeitige politische System zu retten. Vielleicht ist es ihm auch persönlich zu viel geworden. Denn dass Massen gegen seine Regierung protestieren, passiert ihm nun schon zum zweiten Mal. 1992 musste er als Premierminister zurücktreten, als es in mehreren Landesteilen zu gewalttätigen Demonstrationen wegen der wirtschaftlichen Situation gekommen war.

»Omar Karamis Regierung war nicht das Problem«, schreibt darum auch Professor Chibli Mallat in einem Zeitungskommentar. Er ist einer der Oppositionsführer, bekannt als Anwalt der Überlebenden der Massaker von Sabra und Shatila. Das wichtigste sei nun, dass Präsident Emile Lahoud zurücktrete. Schließlich sei dessen Mandatsverlängerung im September der Grund für den Unmut. Danach müssten die Syrer abziehen und schließlich faire Parlamentswahlen abgehalten werden.

So sehen das die meisten, auch die linken Oppositionellen. Dabei haben die Syrer sich in der Vergangenheit nur gelegentlich in die Wahlen eingemischt. Niemand fordert jedoch, dass sich das konfessionelle Wahlsystem ändern muss. Dass im Libanon immer die Mitglieder der »200 mächtigen Familien« gewählt werden, liegt unter anderem daran, dass nicht Vertreter von Parteien, sondern Führer konfessioneller Gruppen zur Wahl stehen.

Zudem muss jeder Wähler in dem Ort seine Stimme abgeben, aus dem seine Familie stammt, also womöglich in einem Dorf, wo nur noch die Großeltern leben. Für die alteingesessenen Eliten war es insofern zumeist einfach praktisch, sich mit den Syrern gut zu stellen. Warum sollten sie auf Konfrontation gehen, wenn sie damit ihre Macht nur gefährdeten, nicht aber mehr Wahlstimmen gewinnen konnten?

Auch der Drusenführer Walid Jumblatt, der als wichtigster Oppositionspolitiker gilt, und der kürzlich ermordete Sunnit Rafik al-Hariri haben sich bis zum Herbst 2004 so verhalten. Die Vorschläge der Opposition für den Posten des Premierministers geben keinen Grund zur Hoffnung, dass sich das System grundsätzlich ändern wird. Alle Kandidaten stammen aus den üblichen Familien, haben meist schon einen Großvater, der selbst Premierminister war.

Darin unterscheiden sich auch die meisten Linken von den restlichen Oppositionellen nicht. Sie bevorzugen die Schwester Hariris als Premierministerin, weil eine Frau als Regierungschefin so etwas wie eine Revolution in einem arabischen Land darstellen würde. Doch damit würde letztlich aus der Vettern- nur eine Cousinenwirtschaft.