Squatters in Paradise

Barcelona hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Hochburg der Hausbesetzer entwickelt. von thorsten mense (text und fotos)

Im oberen Stockwerk proben zwei Türken und ein Este mit ihrer experimentellen Noise-Band. Im Zimmer nebenan hört der Algerier ohne Papiere in voller Lautstärke arabische Musik. In der Küche sitzen zwei bulgarische Traveller, eine junge Frau aus Island, ein Peruaner und der Punk aus Litauen, der sich selber als Anarcho-Egoist bezeichnet, mit ihren Gitarren und mit Tütenwein. Irgendwo bellt ein Hund. Wenn du um fünf Uhr morgens in eine solche Szene gerätst, bist du wahrscheinlich in einem besetzten Haus in Barcelona.

Die Stadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Mekka der Hausbesetzer aus ganz Europa entwickelt. Die »Okupas« kommen aus unterschiedlichen Ländern und aus den verschiedensten Szenen: Hippies, Punks, Straßenkünstler, Junkies, Obdachlose, Migranten, Aktivisten, Autonome. Wie viele Häuser wirklich illegal bewohnt werden, weiß niemand genau, am allerwenigsten die Stadtverwaltung. Sie geht von 150 Häusern im Großraum Barcelona aus, die wirkliche Anzahl liegt aber sicher höher. Und es werden immer mehr. Sie sind Teil der Stadt geworden, prägen das Straßenbild und sind Orte alternativer und linker Kultur. Außerdem sind sie Sammelbecken politischer Aktivisten aus der ganzen Welt, Treffpunkte für Weltenbummler und Touristenattraktion zugleich. Wer den berühmten Park Güell betritt und das Panorama der Stadt genießen möchte, schaut zuerst auf die riesige Aufschrift an der Rückwand eines besetzten Hauses: »Okupa y resiste!« – Besetze und leiste Widerstand!

Wenn man durch die engen Gassen des Altstadtviertels Born läuft, stößt man irgendwann auf einen liebevoll gestalteten kleinen Park, umgeben von Häuserruinen, in dem Migranten, Okupas und 60jährige Nachbarn gemeinsam tagsüber in der Sonne sitzen. Die Menschen erzählen gerne und mit Stolz die Geschichte dieses Ortes. Eine Immobilienfirma kaufte vor einigen Jahren in der dicht bewohnten Gegend alte Häuser und ließ sie abreißen. Im Auftrag der Stadtverwaltung sollte sie dort eine Tiefgarage errichten. Wochenlanger Lärm einstürzender Häuser und meterdicke Staubschichten waren die Folge. Die entstandene Lücke tauften die Anwohner bald »Forat de la Vergonya«, das Loch der Schande. Symbolisch pflanzten sie dort Ende 2001 einen Weihnachtsbaum, was unerwartet enorme Konflikte mit sich brachte. Schon bald schnitt jemand nachts heimlich den Baum ab, beim nächsten Baum, den die Anwohner pflanzten, wurden die Wurzeln gekappt.

In der Zeit während des Gerangels zwischen den Anwohnern und der Stadt sowie der Immobilienfirma um den Baum besetzte eines Morgens eine Gruppe Okupas einige der leeren und für den Abriss bereit stehenden Gebäude. Nun fingen sie gemeinsam mit den Nachbarn an, täglich kleine Löcher in den Asphalt zu graben und kleine Bäume zu pflanzen, die dann wiederum nach ein paar Tagen von den Baggern der Baufirma zerstört wurden.

Als eines Tages, geschützt von der Polizei, der dritte Weihnachtsbaum und so auch symbolisch der Widerstand zerstört werden sollte, kam es zu Auseinandersetzungen mit den Anwohnern und Okupas. Mehrere Menschen wurden dabei verletzt. Kurz danach wurde die leere Fläche mit einer Mauer umgeben und zusätzlich eingezäunt. »Wochenlang war das Viertel voll mit Polizei, Tag und Nacht bewachten sie das Gelände«, beschwert sich ein Anwohner, der schon sein ganzes Leben in dem Viertel wohnt. Irgendwann wurde dann eine Demonstration gegen Bauspekulationen geplant. Während der Versammlung des Nachbarschaftsvereins, die vorher stattfand, regte ein Anwohner an: »Warum gehen wir nicht nach der Demonstration gemeinsam zum Forat und nehmen uns den Platz wieder?« Überall zustimmendes Kopfnicken. Kurzerhand wurde die Route geändert. Die Demonstranten zogen zum Forat, entfernten vor den Augen der Polizei den Zaun, rissen die Mauer ein und besetzten den Platz. Ein Besetzer erzählt lachend: »Schon Tage zuvor markierte ein Graffiti die Stelle, wo die Mauer später eingerissen wurde: 1, 2, 3, BOOM!«

Die Baumaschinen wurden entsorgt, die Reste des Zauns sind nun die Abgrenzung eines Fußballplatzes, auf dem sich tagsüber die Kinder des Viertels austoben. Direkt neben dem Forat-Park liegen zwei der besetzten Häuser mit Gratis-Internetcafé und einem Fahrradladen. Daneben kann man die skurrile Atmosphäre der mit Stützpfeilern gehaltenen Außenfassaden mancher fast vollständig abgerissener Häuser genießen. Die Stadt hat mittlerweile Abstand vom Tiefgaragenprojekt genommen, die restlichen Häuser sollen aber trotzdem abgerissen werden. Die Anwohner wollen auch diesmal nicht tatenlos zusehen.

»Wenn Wohnen Luxus ist, ist Besetzen ein Recht.« Dem Motto der Okupas stimmen auch immer mehr Bürger zu. Die martialische Parole »Tourist – you are the terrorist!« sieht man an viele Wände gesprüht. Die Wohnungssituation hat sich durch die Stadtsanierung, die seit den Olympischen Spielen 1992 rasant vorangetrieben wurde, stark verschlechtert. Drastische Mieterhöhungen, Kündigungen und der Abriss der Häuser, in denen die Mieter schon ihr ganzes Leben wohnten, gingen damit einher. Gleichzeitig stehen 70 000 Wohnungen in Barcelona leer.

Aber die Stadt möchte »guapa« (hübsch) werden, ihre Zentren modernisieren und so noch mehr Touristen und Investoren anlocken. Um sich deren Interesse weiter zu sichern, werden immer neue Großveranstaltungen geschaffen, zuletzt im vergangenen Jahr das »Forum der Kulturen«. Die Veranstaltung wurde zum finanziellen Reinfall und hat sicher mehr die spanische wie europäische Doppelmoral bezüglich Toleranz und Kulturaustausch offenbart, als integrierend zu wirken. Nicht wenige eingeladene Künstler durften nicht auftreten, da sie über keine gültigen Papiere verfügten.

Wenn man durch Barcelona läuft, sieht man, dass die meisten leer stehenden Häuser aus Angst vor Besetzungen zugemauert wurden. Da nützt es wenig, sich im Umgang mit Dietrichen zu üben. Dennoch sitzen zehn Besetzer aus fünf verschiedenen Ländern fasziniert vor dem Fernseher. Sie schauen einen Bericht des deutschen Senders ARD über die Weltmeisterschaft der Schlossöffner. Später werden in der Sendung die verschiedenen Methoden so detailliert dargestellt, dass auch Laien mit etwas Übung schnell Standardvorrichtungen öffnen können. Karl aus Berlin hat den Film mitgebracht, die nächsten Tage sieht man ihn und andere mit Schlosszylindern und Dietrichen eifrig üben.

Auch ständig auf der Suche nach geeigneten Häusern ist der 27jährige Gabriel. Im Sommer lebt er auf Menorca, im Winter zieht er das Leben als Besetzer in der Großstadt vor. Er kennt ein leer stehendes Haus am Strand mit Blick aufs Meer. Es ist einfach hineinzukommen. Perfekt. Allerdings treibt sich in der Nähe des kleinen Hauses ständig ein Mann herum. Auf die Frage, was er denn hier mache, antwortet er: »Arbeiten«. Er bewacht das Haus. Die Hauseigentümer entwickeln offensichtlich eigene Wege, den Hausbesetzungen zu begegnen.

Ich traf Gabriel und zwei weitere Okupas in einem kleinen spanischen Café. Sie erzählten, dass eine Woche zuvor die Immobilienfirma, der das Haus gehört, das sie besetzt haben, mit ihnen in Kontakt getreten sei. Die Okupas sollten einen Vorschlag vorlegen, unter welchen Umständen sie das Haus verlassen würden. Deshalb saßen sie nun mit einer übertrieben freundlichen Vertreterin der Firma an einem Tisch und brachten ihr Angebot vor: »Wir wollen 120 000 Euro.« Bevor die Frau ihre Mimik wieder unter Kontrolle hatte, legten die Okupas noch nach: »Ach ja, und zwei VW-Busse!« Das müsse sie erst mit ihrem Chef bereden. »Aber welches Modell soll der Bus denn sein?« fragte die Frau dennoch zum Schluss. Das Angebot war von den Okupas natürlich nicht ernst gemeint, aber nach einer Woche meldete sich die Immobilienfirma erneut.

Wieder traf man sich in dem Café. Neben der Frau war diesmal auch der junge Chef der Immobilienfirma anwesend. Auf Seiten der Okupas fanden sich ein spanischer Maoist sowie Gabriel mit einem Aufnäher an der Jacke ein: »Burn the Rich«. In der Mitte des Tisches stand ein schwarzer Lederkoffer mit 30 000 Euro in bar. Das Angebot wurde, politisch korrekt, natürlich abgelehnt. Zwei Wochen später erzählte Gabriel, dass Unbekannte vor dem Haus standen, nach eigener Aussage im Auftrag des Eigentümers, die Bewohner beschimpften und damit drohten, das Haus anzuzünden. Kurz darauf wurde der 13jährige Pablo aus Argentinien, der mit seiner Mutter in dem Squat lebt, beim Verlassen des Hauses von ihnen angegriffen. Dass bezahlte Schläger engagiert werden, ist derzeit noch die Ausnahme, aber vielen Eigentümern ist die Justiz zu langsam.

Maria von der »Oficina por la Okupación«, dem im vergangenen Jahr von Hausbesetzern ins Leben gerufenen Amt für Hausbesetzungen, erklärt mir die gesetzliche Lage: »Wenn du erst mal in einem Haus drin bist und den Eingang wieder verschlossen hast, hast du es eigentlich schon geschafft. Ohne richterlichen Beschluss darf die Polizei nun nicht mehr mit Gewalt das Haus betreten, der Eigentümer muss erst einen Gerichtsprozess beginnen.« Und die Prozesse dauern in der Regel zwischen drei Monaten und zwei Jahren. »Nur bei öffentlichen Gebäuden darf in den ersten 48 Stunden ohne richterlichen Beschluss geräumt werden.«

Letztlich ist es jedoch immer ein Glücksspiel, wie lange ein Haus besetzt bleiben kann. Mitglieder des Kollektivs »Miles de Viviendas« (Tausende Wohnungen) besetzten Anfang des Jahres ein Haus der spanischen Nationalpolizei. Wenn man das Wohnzimmer im fünften Stock betritt, kann man die Sonne hinter dem Hafen untergehen sehen. Niemand glaubte an eine lange Verweildauer. »Wir dachten, die schmeißen uns sofort wieder raus«, sagt ein Mitglied des Kollektivs. Mittlerweile ist es das erste Soziale Zentrum in dem Stadtteil.

Erst im Rahmen einer Justizreform vor neun Jahren wurde das Besetzen von Häusern in Spanien zu einer Straftat. In Barcelona hat man aber auch heute noch kaum etwas zu befürchten. In den seltensten Fällen kommt es nach friedlichen Räumungen zu Anklagen oder gar Verurteilungen. »Meist wollen sie nicht einmal deinen Ausweis sehen. Es ist bloß sehr unangenehm, wenn man früh morgens von Stiefeln wach gestoßen wird und in das Gesicht eines Polizisten schaut, der einem klar macht: ›Raus auf die Straße!‹«, wie der 25jährige Student Juan berichtet. Er könnte um die Ecke bei seinen Eltern wohnen, aber er zieht das ungewisse Leben im Squat vor.

Aber die Okupas sind besorgt, dass die Repression, die derzeit im Rest des Landes herrscht, auch nach Barcelona kommt. »Zum ersten Mal wurde ein Aktivist wegen einer Besetzung, die vor zwei Jahren stattfand, angeklagt«, erzählt Marc, der noch die Anfänge der Bewegung vor 20 Jahren erlebt hat. Die Stadtverwaltung will verhindern, dass in Europa der Eindruck entsteht, Barcelona sei »die Hauptstadt der Hausbesetzer«, wie schon vor einem Jahr die größte spanische Tageszeitung, El País, titelte. Damit kommt die Stadt wohl zu spät. Marc schätzt, dass die Hälfte der Okupas nicht aus Spanien stammt.

Die linksradikale Szene lebt in Barcelona von den besetzten Zentren, einerseits durch die Schaffung und Erhaltung von linker Subkultur und unkommerziellen Freiräumen, andererseits bieten sie Platz und Infrastruktur für die politischen Gruppen. Marc beschreibt es so: »Hausbesetzen an sich ist noch keine politische Handlung, sondern ein Mittel, um Politik möglich zu machen.« Die Häuser dienen als Netzwerk, um Nachrichten zu verbreiten, Plakate zu verteilen oder das nächste Punkkonzert anzukündigen. Die Loseblattsammlung Contra-infos kann man als kleines Indymedia-Druckerzeugnis mit regionalem Bezug bezeichnen, Info Usurpa nennt sich der wöchentliche Kalender der Sozialen Zentren. Linksradikale Proteste, wie beim Weltbanktreffen vor vier Jahren, und Antifa-Demonstrationen werden in der Regel von den Okupas organisiert.

Außerhalb von Kampagnen handeln die einzelnen Squats jedoch recht autonom. »Vor ein paar Jahren gab es noch viel mehr Koordination als heute. Aber durch den großen Zuwachs an Häusern und besonders durch die vielen Leute aus dem Ausland, von denen manche nicht ein Wort Spanisch sprechen, hat es sich geändert«, sagt Marc. Den Zustrom von Leuten sieht er sehr positiv, aber er würde gerne den politischen Charakter der Bewegung wieder mehr hervorheben.

Aufgrund der großen und heterogenen Masse an Leuten sieht er aber auch, dass die Definition einer gemeinsamen politischen Linie sehr schwierig ist. Die meisten stehen linksradikalen Ideen nahe, ohne sich konkret mit einer bestimmten Richtung zu identifizieren. Das eine Haus ist mit Anarchie-Zeichen bekritzelt, während man im Squat um die Ecke sein Bier unter Katalonien- und Palästina-Flaggen trinkt, mit Blick auf ein Sinn-Fein-Plakat.

Wenn mehrere verschiedene Gruppen in einem Haus wohnen, kann es manchmal zu skurrilen Situationen kommen. Wie in dem Haus, wo Stefan aus Südtirol eine Zeit lang gelebt hat: »Wenn die Hippies morgens ihren Yoga-Kurs durchführen wollten, standen die Punks mit ihrem ersten Dosenbier daneben und lachten sie aus.« Wenn man die Leute fragt, was ihre Überzeugungen sind, hört man sehr oft: »Soy okupa!« – »Ich bin Okupa!« Sie sind in Spanien zu einer eigenen subkulturellen politischen Bewegung geworden. Die antikapitalistische und anarchistische Grundeinstellung wird von vielen eher praktisch gelebt als theoretisch begründet: Von Essen und Kleidung bis hin zu Computern wird alles »recycled«, das heißt aus dem Müll geholt. Was man sonst noch braucht, wird geklaut. Oder, wie Gabriel es ausdrückt: »Du kaufst das Brot und klaust den Schinken.«

Warum sich die Bewegung insbesondere in Barcelona so gut entwickeln konnte, liegt auch an der Geschichte der Stadt. Der spanische Bürgerkrieg, eine lange anarcho-syndikalistische Tradition und die Unterdrückung unter Franco haben die Menschen geprägt. Die Forderung nach Selbstbestimmung und die Ablehnung der Autorität sind auch in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden, es herrscht eine vergleichbar hohe Akzeptanz für die Hausbesetzer.

Im vergangenen Jahr wurden, soweit bekannt, 59 Häuser neu besetzt und 14 davon wieder geräumt. Dazu kamen 23 weitere Räumungen von schon länger existierenden Squats. 59:37 für die Okupas. Man darf gespannt sein, wer in diesem Jahr gewinnt.