European Psycho

Flexibel und genügsam, aber auch sozial engagiert und bildungsbeflissen soll der europäische Lohnabhängige der Zukunft sein. Denn die Weltmacht EU benötigt brauchbares Humankapital. von jörn schulz

Es gab schon immer einen Grund, Lohnforderungen zurückzuweisen. In den siebziger Jahren wurde die Lohn-Preis-Spirale beschworen, eine Theorie, derzufolge Lohnerhöhungen zur Preiserhöhungen führen und deshalb besser unterbleiben sollten. Verwiesen wurde auch auf die Konkurrenz der fleißigen und genügsamen Japaner. Derzeit stehen die angeblichen Erfordernisse der Globalisierung im Zentrum der Wirtschaftstheorien. Obwohl der gesellschaftliche Reichtum seit den siebziger Jahren ständig gewachsen ist, stehen nicht Lohnsteigerungen, sondern Mehrarbeit und Lohnsenkungen zur Debatte. Und das Vergleichsobjekt ist nicht mehr ein Industriestaat mit ähnlich hohem Wohlstand, stattdessen werden die fleißigen und genügsamen Chinesen als Konkurrenten angeführt.

Eine Angleichung an das chinesische Niveau ist angeblich nicht in Sicht. »Wir können nicht konkurrieren mit China oder Lateinamerika um niedrige Löhne oder niedrige Sozialstandards«, verkündet Günter Verheugen, Industriekommissar der EU. Doch den Statistiken des Bundesministeriums für Außenwirtschaft zufolge verdient ein ungelernter Arbeiter in Peking etwas mehr als 200 Euro im Monat, ein Computerexperte erhält 1 800 Euro. Hinzu kommen Lohnnebenkosten in Höhe von 45 Prozent des Bruttogehalts. Die Löhne außerhalb großer Industrie- und Geschäftszentren wie Peking und Shanghai sind allerdings wesentlich niedriger.

Allzu groß ist der Abstand zu ärmeren EU-Staaten wie Polen und Tschechien, in denen der Durchschnittslohn kaum über 500 Euro liegt, nicht mehr. In den letzten Jahren stiegen die Löhne in den chinesischen Geschäftsmetropolen um sieben bis acht Prozent jährlich. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, müssen die chinesischen Arbeiter bald fürchten, dass die Unternehmen in die Billiglohnregion EU abwandern.

Insofern könnten sich die EU-Politiker eigentlich freuen über den Erfolg ihrer Bemühungen, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. In Lissabon hatten die Staats- und Regierungschefs der EU im März 2000 beschlossen, die EU bis 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«. Doch als die Europäische Kommission nun eine Bilanz zog, war sie nicht zufrieden. Kommissionsmitglied Joaquin Almunia fasste die Kritik zusammen: »Die Mitgliedsstaaten müssen den Wirtschaftsreformpfad überzeugender beschreiten.«

Schließlich soll die EU zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt werden. Zwar kann den USA ihre militärische Überlegenheit in absehbarer Zeit nicht genommen werden. Die Kombination von ökonomischem Einfluss, Bündnissen mit Großmächten wie China und Russland und verbesserter militärischer Interventionsfähigkeit könnte es der EU jedoch ermöglichen, den USA ihre Führungsrolle streitig zu machen.

Fixiert wird dieses Programm in der EU-Verfassung, die eigentlich gar keine Verfassung ist, sondern ein zwischen souveränen Staaten abgeschlossener Vertrag. Diese Souveränität soll nicht aufgegeben werden, in Artikel 5 heißt es: »Die Union achtet die nationale Identität der Mitgliedsstaaten.« Weiterhin behalten sich die nationalen Regierungen die wichtigsten Entscheidungen vor, so hat das Europäische Parlament nur »gemeinsam mit dem Ministerrat« gesetzgebende Funktion. Der Interessenausgleich zwischen den auch untereinander konkurierenden Mitgliedsstaaten erfordert ein komplexes Geflecht von Institutionen. Zum Teil sind sie, wie der Ministerrat, die direkte Vertretung der nationalen Regierungen, während anderen, wie der Europäischen Kommission und der Zentralbank, die Rolle des ideellen europäischen Gesamtkapitalisten zukommen soll.

Damit nicht alles immer wieder debattiert werden muss, enthält die Verfassung eine Reihe politischer Vorgaben. Dazu gehört die Verpflichtung, die »militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. Die EU legt sich auch fest auf »einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital nach Maßgabe der Verfassung gewährleistet ist«. Diese in der Geschichte der bürgerlichen Demokratie beispiellosen Verfassungsvorgaben bedeuten, dass jeder, der für Entmilitarisierung oder Sozialismus eintritt, ein Verfassungsfeind ist. Jede Einschränkung der unternehmerischen Freiheit muss in Zukunft begründet und genehmigt werden.

Diese Konstellation erleichtert es den europäischen Politikern, unpopuläre Maßnahmen als Sachzwang darzustellen. Im Streitfall kann zudem ein populistischer Konflikt inszeniert werden. Politiker stellen sich dann, wie bei der Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie, demonstrativ als Sachwalter sozialer Interessen gegen die herzlose EU-Bürokratie, deren Zusammensetzung und politische Grundsätze sie zuvor selbst festgelegt haben.

Solche Konflikte dürften sich in Zukunft häufen. Denn die Weltmacht Europa benötigt ein brauchbares Humankapital, und die in der Agenda von Lissabon entworfenen Pläne sind ein autoritäres Programm zur Schaffung eines »neuen Menschen«. Der zukunftsfähige Lohnabhängige wird für weniger Geld mehr arbeiten, um die Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten. Er ist jederzeit bereit, sich einen neuen Arbeitsplatz in einer anderen Branche oder einem anderen Land der EU zu suchen, wenn der Strukturwandel dies erfordert. Da er seinem Chef keine unnötigen Probleme bereiten will, befleißigt er sich des lebenslangen Lernens und bildet sich in seiner Freizeit auf eigene Kosten fort. Um nicht durch eine Krankheit seinem Unternehmen zur Last zu fallen, treibt er Sport, meidet Hamburger und kocht sich stattdessen lieber einen Eintopf mit Saisongemüse. Das nützt auch den mindestens zwei Kindern, die er großzieht, um die Überalterung der Gesellschaft zu verhindern. Ihnen ist er durch seine ehrenamtliche Arbeit ein Vorbild, die zudem die soziale Kohäsion stärkt.

Es genügt nicht mehr, einfach nur zu schuften. Von den Lohnabhängigen wird gefordert, dass sie eigenständig den Wert ihrer Arbeitskraft erhöhen, ohne so unverschämt zu sein, dafür eine höhere Entlohnung zu fordern. Recht offen bekannte die Bundesregierung in ihrem Bericht zur »Implementierung von Strategien für das lebenslange Lernen« Ende 2003: »Die Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit der Menschen für eine wettbewerbsfähige und dynamische Wirtschaft in Europa zu stärken, ist ein gemeinsames Anliegen.« Man fühlt sich auch für die »Förderung der Persönlichkeitsentwicklung« zuständig, schließlich sind nebenbei noch ein paar soziale Aufgaben zu erledigen, für die der Staat kein Geld mehr ausgeben will.

Die gezielte Überforderung ist eine Strategie des modernen Managements, zu dessen Grundregeln es gehört, dem Lohnabhängigen nie das Gefühl zu geben, er müsse seine Arbeitsleistung nicht weiter erhöhen. Die EU-Politik dehnt diese Strategie auf die Freizeit aus und macht sie zur Staatsdoktrin. Gestoppt werden kann diese Politik nur durch sozialen Widerstand oder eine Überproduktionskrise, die einen New Deal erforderlich macht. Dass sie die Arbeitslosigkeit beseitigt, versprechen nicht einmal mehr ihre Befürworter. Die Zahl der Psychotherapeuten, die das Burn-out-Syndrom behandeln, dürfte allerdings rasant steigen. Wenn sich die Lohnabhängigen eine Therapie noch leisten können.