Verhältnisse in der Klasse

Der chilenische Film »Machuca, mein Freund« erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft vor dem Hintergrund des Militärputsches. von gaston kirsche

Den da kenn ich, das ist der Sohn der Frau, die bei uns zuhause die Wäsche macht.« Verlegen stehen die ärmlich gekleideten Jungs vor ihren neuen Mitschülern im Klassenzimmer und lassen sich begutachten. Die Klassenkameraden tragen gepflegte Schuluniformen, schließlich handelt es sich hier um eine der renommiertesten katholischen Privatschulen von Santiago de Chile. »Gut, dann kennt ihr euch ja schon«, entgegnet der Schulleiter, Padre McEnroe, dem Schüler aus gutem Hause, »ihr seid nämlich ab jetzt Klasssenkamaraden.« Hinter dem adretten Gonzalo Infante wird fortan der ärmliche Pedro Machuca sitzen.

Es ist der Frühling des Jahres 1973, in Chile regiert seit drei Jahren eine linke Volksfront, Präsident ist der Sozialist Salvador Allende. Staatliche Sozialprogramme wie die Einführung der kostenlosen Schulmilch, die Verstaatlichung des Kupferbergbaus oder die Agrarreform mit der Gründung landwirtschaftlicher Genossenschaften ermuntern und bestärken die Mobilisierung der in Chile traditionell starken Arbeiter- und Landlosenbewegung. Alles scheint möglich, das Lied »Venceremos« wird gesungen: »Wir werden siegen!« Schulleiter McEnroe unterstützt die sozialistischen Ideen nach Leibeskräften, indem er den Jungen aus den benachbarten Elendsvierteln den Zugang zu einer Eliteschule ermöglicht.

Der Spielfilm fußt auf den Erfahrungen, die Regisseur Andrés Wood selbst gemacht hat. Er war 1973 acht Jahre alt und ging auf eine Privatschule, die Schülern aus den marginalisierten Siedlungen, den Poblaciónes, der Umgebung offen stand. »Von den 40 Schülern in meiner Klasse kamen 15 aus den Elendsvierteln am Mapocho, nicht weit von der Schule. Die Schule leitete ein sehr fortschrittlich eingestellter, amerikanischer Priester. Er integrierte die Kinder aus den ärmsten Verhältnissen in das Bildungssystem.«

Die Familie von Gonzalo wohnt in einer Villa, man hat Personal und eine Firma. Die Familie von Pedro lebt in einer zusammengeflickten Wellblechhütte. Die Bedeutung des Klassengegensatzes für das Verhalten der Schüler wird mehr als deutlich. Die Herrensöhnchen beharren auf ihren Privilegien, die kleinen Proleten fordern Anerkennung und Respekt. Gegen verbale Erniedrigung wird auch mal die Faust eingesetzt. Die sozialen Konflikte im Mikrokosmos Schule spiegeln so die Unversöhnlichkeit, mit der die Elite sich gegen soziale Veränderung durch die Regierung Allende wehrt. Auf einer Versammlung empören sich reiche Eltern über die Aufnahme der Kinder der Armen. Die Mutter von Gonzalo echauffiert sich, man könne doch nicht Äpfel mit Birnen zusammenwerfen. Pedros Mutter erwidert, sie habe gehofft, hier nicht mehr diskriminiert zu werden. Es kommt zum Eklat.

Man ist mittendrin in den Diskussionen, Streitereien und Demonstrationen. Pedro verkauft zusammen mit seiner wenig älteren Nachbarin Silvana und deren Vater Fahnen auf Demos. Sie verscherbeln sowohl die der Nationalen Front der Rechten als auch die roten Fahnen der Linken. Gonzalo kommt mit und hilft beim Verkauf. Auf der rechten Demo hüpfen die Kinder nur zum Schein mit, als dies alle tun, aus Protest gegen die Regierung. Silvana ist jedoch äußerst unwillig dabei. Als die Unidad Polular auf den Straßen tanzt, ist Silvana völlig aus dem Häuschen. Gonzalo ist beindruckt von dem Mädchen und verliebt sich in sie.

Einen Tick zu lang geraten sind die Kussszenen, wenn sich Pedro, Silvana und Gonzalo zwei Dosen süße Kondensmilch von Mund zu Mund teilen. Aber im Teenageralter sind die ersten Küsse ja auch wichtiger als eine Mondlandung. Gonzalo trottet aber auch seinem Vater hinterher, der im Hinterzimmer eines Ladens Lebensmittel und Zigaretten kauft. Als sie mit ihrem vollen Karton aus dem Laden treten, der Vater rauchend, gehen sie an Schildern vorbei, auf denen steht: »Es gibt keine Zigaretten. Es gibt keine Milch.« Wie durch das Zurückhalten von Waren künstlich Knappheit erzeugt wird, macht der Film nebenbei anschaulich.

Die Freundschaft der drei bleibt von der zunehmend aggressiveren rechten Oppositionspolitik und Destabilisierung des Landes nicht unberührt. Als Pedro bei Gonzalo in der Villa zu Besuch ist, versucht der ältere Freund von Gonzalos Schwester, ihn zu erniedrigen und ihm Angst zu machen, indem er verächtlich redet und mit einem Knüppel vor seinem Gesicht herumfuchtelt. Auf einer Demo der Rechten verkauft Silvana ihm eine Zigarette, die er voller Arroganz nicht bezahlt. Silvana gerät außer sich vor Wut und spuckt auf ein Auto, das in der Demo mitfährt. Daraufhin greifen mehrere Frauen sie an. Gonzalos Mutter kommt hinzu – sie demonstriert bei den Rechten mit –, will zuerst schlichten. Als Silvana sie tritt, fängt Gonzalos Mutter an, sie zu beleidigen: Sie sei eine Hurentochter, eine Kaputte. Rotos, Kaputte – so nennt Chiles Elite die Bewohner der Elendsviertel. Silvana läuft weg, ohnmächtig vor Zorn. Als im Gespräch zwischen den dreien später Pedro erwähnt, dass das doch Gonzalos Mutter gewesen sei, richtet Silvana ihre Wut gegen Gonzalo. Damit wird die Freundschaft beschädigt.

Was in den meisten Filmen zum Militärputsch in Chile fehlt, hier ist es Thema: die Rüchsichtslosigkeit, mit der Chiles Elite ihre Pfründe verteidigt wissen wollte. In »Machuca« geht es um das Leben vor dem Putsch – die Sehnsüchte, das Begehren, das Aufbegehren und die Heftigkeit der Abwehr. Den Klassenverhältnissen kann sich in »Machuca« niemand entziehen, alle ProtagonistInnen sind in ihre Vergangenheit und Herkunft verstrickt. Auf beeindruckende Weise wird gezeigt, wie die Herkunft und die Politik selbst das Leben von Kindern prägen.

In der chilenischen Zeitung Las Ultimas Noticias schrieb Miguel Ángel Fredes: »Wenn es einen Film gibt, den man in diesem Jahr nicht verpassen darf, ist es ›Machuca‹. Nie war das chilenische Kino so direkt und subtil zugleich, so melancholisch und brutal, so fröhlich und so schrecklich traurig.« Nach dem Putsch sieht man Gonzalo allein durch die Straße irren. Einem Soldaten, der ihn verhaften will, erklärt er: »Ich gehöre nicht dazu. Schauen Sie doch, wie ich angezogen bin!« Der Soldat lässt ihn laufen, aber dafür musste er seine Freunde verleugnen. Am Schluss steht Gonzalo einsam am gerölligen Ufer des Flusses Mapocho, dort, wo Pedro und Silvana leben. Eine verrostete Dose liegt dort herum, in der einmal die süße Milch war, die sie zu dritt getrunken haben.

»Machuca, mein Freund« (Chile 2004). Regie: Andrés Wood. Start: 31. März