Vergangenheit, die vergeht

Die japanischen Reaktionen auf die Proteste in China schaden Japans Bemühungen um eine wichtigere internationale Rolle. von hans martin krämer

Es dürfte ziemlich sicher sein, dass die chinesische Regierung ihre Finger im Spiel hatte, als bei Demonstrationen in mehreren chinesischen Städten am vorletzten Wochenende antijapanische Parolen skandiert wurden und Steine auf japanische Einrichtungen flogen. Dennoch waren zigtausende chinesischer Demonstranten wohl auch tatsächlich darüber empört, dass in Japan ein Schulbuch für den Geschichtsunterricht zugelassen wurde, in dem japanische Kriegsverbrechen in China verharmlost werden. Die japanische Öffentlichkeit hingegen zeigte sich überrascht von den Protesten und will keinen Zusammenhang zwischen den Protesten und der eigenen Vergangenheit erkennen.

Dabei ist es keineswegs so, dass sich in Japan in den vergangenen zehn Jahren die Thematisierung der eigenen Geschichte nicht gewandelt hätte. Im Zuge der heftigen vergangenheitspolitischen Diskussionen, die dem Tod des Kriegs-Tenno Hirohito im Jahr 1989 folgten, gingen einzelne Kriegsgräuel ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit und damit erstmals in die japanischen Schulbücher ein, so etwa das Massaker von Nanjing 1937, das System der Zwangsprostitution oder die Experimente, die von der Einheit 731 an Chinesen durchgeführt wurden. Eines von mehreren neuen Schulbüchern, die im kommenden Jahr auf den Markt kommen werden, fällt hinter diese Erkenntnisse zurück. Das löste in China die Proteste aus.

Über das Massaker von Nanjing, ein Thema, bei dem man in China besonders hellhörig ist, heißt es in dem inkriminierten Schulbuch: »Der Tokioter Kriegsverbrecherprozess befand, die japanische Armee habe 1937 bei der Besetzung Nanjings im chinesisch-japanischen Krieg viele chinesische Zivilisten getötet (Zwischenfall von Nanjing). Über die Fakten gibt es aufgrund der Quellenlage Zweifel und viele Meinungen, und die Auseinandersetzung darüber dauert bis heute an.« Gerade die implizierte Behauptung, das Massaker von Nanjing, in dessen Verlauf die japanische Armee mehrere hunderttausend Chinesen umbrachte, sei praktisch eine Erfindung der Tokioter Prozesse, ist angesichts des gegenwärtigen Erkenntnisstandes unverschämt. Selbst wenn man Steinwürfe nicht für die adäquateste Antwort hält, könnte man von der japanischen Öffentlichkeit und Regierung zumindest mehr Verständnis für die Reaktionen in den Nachbarländern erwarten.

Die japanischen Medien jedoch verschweigen die Motive der Protestierenden fast vollständig. Die Regierung ist der Auffassung, dass es sich um ein privat verlegtes Schulbuch handle, dessen Inhalt sie nicht beeinflussen könne, weil Japan im Gegensatz zur Volksrepublik China ein liberaler Rechtsstaat sei. Tatsächlich aber müssen in Japan nicht nur Schulbuchverlage staatlich registriert sein, überdies werden Schulbücher einem komplizierten Genehmigungsverfahren unterzogen. In diesem Verfahren spielt, neben einem unabhängigen Expertengremium, das Kultusministerium die zentrale Rolle. Es entscheidet nicht nur darüber, ob ein Buch zugelassen, abgelehnt oder unter bestimmten Bedingungen zugelassen wird, sondern überprüft auch, ob etwaige Bedingungen erfüllt wurden. Am Ende des Verfahrens hat der Kultusminister eine Art Vetorecht. Folglich ist die Regierung für den Inhalt dieses neuen Schulbuchs mitverantwortlich.

Die Kompromisslosigkeit in dieser Frage dürfte den japanischen Bemühungen um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht gerade hilfreich sein. Schließlich wird dafür eine Zweidrittelmehrheit der Generalversammlung benötigt. Die Stimmen aus China und Südkorea dürfte Japan schon abschreiben können. In einer aktuellen Umfrage sprachen sich in Südkorea 92 Prozent der Befragten gegen einen ständigen Sitz Japans aus, weil dort »nicht genug über die eigene Vergangenheit nachgedacht« worden sei.