Entertainment auf Befehl

Der Sender Neun Live liefert das Fernsehen für die Krise. Sein Konzept der Quizshows macht Schule. von markus ströhlein

Willkommen bei Neun Live! Dieses Mal hat es leider nicht geklappt. Sie können es aber gerne wieder probieren. Wir warten auf Sie. Dieser Anruf kostet nur 49 Cent.« Nach der automatischen Telefonansage ist der Anruf beendet. Ein Tuten folgt. Die Hoffnung auf einen Gewinn ist verpufft.

Die Moderatoren des Fernsehsenders Neun Live animieren die Zuschauer in interaktiven Quizshows zu diesem Griff zum Hörer. Wer Fragen beantworten, Zahlen-, Buchstaben- oder Bilderrätsel lösen kann, bekommt Geld – falls er denn durchkommt. Der Großteil der Gewinnwilligen dringt jedoch nie bis zum Moderator vor. Nur jeder 25. Anrufer gelangt überhaupt in den computergesteuerten Auswahlmechanismus, der dann innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums per Zufall einen Teilnehmer in die Sendung durchstellt. Alle anderen werden bereits vorher mit ein paar geheuchelten Worten des Bedauerns abgespeist.

Die psychologische Strategie hinter den Quizshows ist schlicht. Ein Anruf kostet 49 Cent. Der Einsatz scheint selbst bei kleineren Gewinnen unter 500 Euro lohnenswert. Liegt der Jackpot des Tages bei 100 000 Euro, ist der Spieltrieb nicht mehr zu bändigen.

Die Rätsel stellen, zumindest bei geringen Gewinnsummen, keine allzu hohen Ansprüche an die Zuschauer. Aus Buchstabensalat Worte zu formen, in vermeintlich gleichen Bildern die Fehler zu erkennen, derartige Spiele kennt man von den Kinderseiten jeder Tageszeitung. Knifflig wird es, wenn der Gewinn in die Zehn- oder Hunderttausende geht. Dann werden manche Zahlen- oder Buchstabenrätsel schier unlösbar. Bildunterschiede sind bei normaler Sehkraft und durchschnittlichen Bildschirmabmessungen nicht zu erkennen. Doch Kniffelspiele bleiben die Ausnahme. Denn mit steigendem Schwierigkeitsgrad sinkt die Zahl der Anrufer. 500 000 sind es am Tag. Die Quantität garantiert den Umsatz.

Der Ansturm auf die Telefonleitungen beflügelt den kommerziellen Erfolg des Münchener Senders. Im September 2001 ist Neun Live aus dem Sender tm 3 hervorgegangen, der als Spartenkanal für Frauen wenig ertragreich war. Christiane zu Salm, vorher Geschäftsführerin des Musiksenders MTV, übernahm die Leitung bei Neun Live und machte ihrem Ruf als auf Erfolg programmierte Business-Roboterin alle Ehre. »Call-In-TV« heißt das Programmkonzept. Christiane zu Salm nennt es lieber »Mitmachfernsehen«.

In diesem Konzept geht es jedoch keineswegs um die inhaltliche Partizipation der Zuschauer oder eine Beteiligung am medialen Produktionsprozess. »Wenn Medien ohne Werbung funktionieren wollen, muss das Geschäft direkt mit dem Konsumenten gemacht werden«, sagte Salm im Gespräch mit der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, dem Lizenzgeber für Fernsehsender in Bayern. Im Zug der allgemeinen wirtschaftlichen Rezession und der Krise der Medien im Besonderen brachen die Werbeeinnahmen der Privatsender ein. Neun Live holt deshalb das Geld beim Zuschauer.

Ergänzt wird das zum überwiegenden Teil aus Shows wie »Quizzo« oder »Quizfabrik« bestehende Programm durch Reisesendungen, in denen unter einer eingeblendeten Nummer die zugehörige Reise sofort gebucht werden kann. Die von anderen Privatsendern bekannten Werbeblöcke sind eine nur noch seltene Beigabe.

Der Umsatz von Neun Live spricht für sich. Im Jahr 2002 betrug er 60 Millionen, 2003 78 Millionen, 2004 102 Millionen Euro. »Call-In-TV« taugt als Konzept für die Medienkrise. Das haben auch andere Sender bemerkt und inzwischen nachgezogen. RTL sendet ein »Nachtquiz«, Sat 1 eine »Quiz-Night«, auf NTV läuft ein Nachrichtenquiz, auf N 24 das »Late Night Quiz«. Das Schema ist überall das gleiche. Die Zuschauer können für einen kleinen Obulus, der meist höher ist als 49 Cent, den Moderator anrufen und Wissensfragen beantworten oder Bilderrätsel lösen. Zu gewinnen gibt es Geld.

Die Anzahl der Sendungen mit Moderatoren, die an chronischer Schnellsprech-Logorrhöe leiden, und die Menge der Shows mit blinkenden Zahlen- und Buchstabeneinblendungen, vor deren Ausstrahlung eine Epilepsie-Warnung angebracht wäre, dürften noch zunehmen. Christiane zu Salm meint: »Heute ist klar, dass Fernsehen mit direktem Zuschauerkontakt der wichtigste Wachstumsmarkt im Mediengeschäft wird. Dabei ist Neun Live erst der Anfang.«

Die Kritiker der Geschäftsidee sind längst verstummt, diejenigen, die dem Sender ein unlauteres Vorgehen oder sogar Betrug vorgeworfen haben, ebenfalls. Gefälschte Anrufabrechnungen, unerlaubtes Glücksspiel, unzulässige Animation durch die Moderatoren, alle gegen Neun Live vorgebrachten Behauptungen wurden gerichtlich als falsch beurteilt. Es hätte auch stark verwundert, wenn ein Sender mit derartigen finanziellen Mitteln nicht über Anwälte verfügte, die die Grenzen des legal Machbaren absteckten.

Die Kritik an Neun Live klingt ohnehin oft nach bildungsbürgerlichem Neid darauf, dass anspruchsloser Fernsehschrott größere Gewinne einfährt als Talk-Runden mit schlaumeiernden Anzugträgern. Das »Call-In-TV« ist nicht nur eine Reaktion auf die finanzielle Krise des Fernsehens, sondern auch auf die soziale Krise, in der sich die Zuschauer befinden. Neun Live nimmt den herrschenden Ton auf. Spätestens im Abendprogramm macht man ernst. »Warum rufen Sie nicht an? Sind Sie irre?« Die Moderatoren bei Neun Live gehen wenig subtil vor. Der bisweilen an Beleidigung grenzende Umgang mit dem Publikum ist aber keineswegs ein ironisches Spiel mit medialer Allmacht oder der Trennung von Machern und Zuschauern. Man weiß, wer da vor dem Fernseher sitzt und auf welche Köder der Konsument reagiert. »Das ist der Ausweg aus der Schuldenfalle!« Arbeitslose können eben viel Zeit vor der Glotze verbringen. Nur noch kurz die Existenzangst ansprechen, schon ruft der Zuschauer an. »Früher haben Pharaonen über das Schicksal der Menschen entschieden, heute ist es unser Bild«, ruft es uns entgegen. So wird Entertainment zum Kommando: »Anrufen, anrufen, anrufen!«

Der Anruf für 49 Cent ist eine Analogie zum Ein-Euro-Job: Die Aussortierten dürfen ein wenig mitmachen. Neun Live liefert das perfekte Fernsehen für die Zeiten von Hartz IV. Um den Nachschub an Anrufern muss man sich keine Sorgen machen.