Symbol und Syndrom

30 Jahre nach dem Abzug der US-Truppen aus Vietnam von jörn schulz

Dem Letzten blieb kaum noch Zeit, das Licht auszumachen. Die Soldaten der Nationalen Befreiungsfront (NLF) rückten bereits in Saigon ein, als am 30. April 1975 die letzten Soldaten und Regierungsangestellten vom Dach der US-Botschaft ausgeflogen wurden. Mit dem ruhmlosen Rückzug endete ein fast dreißigjähriger Krieg, den die NLF zunächst gegen die französische Kolonialmacht und seit den sechziger Jahren gegen die US-Truppen geführt hatte. Mehr als zwei Millionen Vietnamesen und 58 000 US-Soldaten starben in diesem Krieg.

Der zweite Golfkrieg wurde 1991 in den USA als Überwindung des »Vietnam-Syndroms« gewertet, des Unwillens, in größerem Ausmaß Bodentruppen in einem Krieg einzusetzen. Die vom eigenen Kriegsgerät ausgehende Gefahr war damals ebenso groß wie die Bedrohung durch feindliche Truppen. 148 US-Soldaten wurden bei Kampfhandlungen getötet, 145 starben bei Unfällen. Im vergangenen Jahr wurde das Vietnam-Syndrom jedoch auch von den US-Medien wieder zitiert. Seit die Zahl der im Irak getöteten Soldaten 1 000 überschritten hat, wächst die Befürchtung, in einen Zermürbungskrieg verwickelt zu werden, der nicht zu gewinnen ist. Die Friedensbewegung bedient sich des Vergleichs mit Vietnam vornehmlich als Symbol für die bleibende Brutalität der US-Kriegsmaschine.

Tatsächlich gibt es eine wichtige Parallele. Die US-Regierung könnte den Krieg verlieren. Die rechtsextremen Organisationen des bewaffneten »Widerstands« repräsentieren nur eine Minderheit überwiegend arabisch-sunnitischer Irakis, doch das ist keine Garantie für ihre Niederlage. Terror, Einschüchterung und eine Strategie der gezielten Eskalation könnten trotz der erfolgreichen Abhaltung von Wahlen und der Regierungsbildung einen Bürgerkrieg provozieren.

Anders als in Vietnam unterstützt die US-Regierung jedoch nicht ein rechtsextremes Regime, sondern den Prozess eines bürgerlich-demokratischen nation building. Die NLF propagierte ein Programm der sozialen Befreiung. Das Ergebnis der stalinistischen Entwicklungspolitik, unter anderem Alphabetisierung und Landreform, erscheint rückblickend eher als erfolgreiche Durchsetzung der kapitalistischen Warenproduktion und nicht als ihre emanzipatorische Überwindung. Der bewaffnete »Widerstand« im Irak dagegen will vorbürgerliche Verhältnisse herbeibomben.

Dass Millionen von US-Amerikanern nicht nur gegen den Krieg demonstrierten, sondern sich viele von ihnen auch mit dem »Feind« solidarisierten und die Unzufriedenheit in der Armee so groß war, dass nach Angaben des Pentagon allein 1970 202 Offiziere von ihren eigenen Soldaten getötet wurden, war ein wichtiges, vielleicht sogar das entscheidende Motiv für den Rückzug aus Vietnam. Eine vergleichbare Dynamik werden irakische Guerillagruppen, die in ihren Videos stolz die Ermordung von Geiseln vorführen, nicht auslösen können.

Die Proteste gegen den Irakkrieg haben trotz einiger erfolgreicher Mobilisierungen weder den Charakter einer sozialen Bewegung angenommen noch zu einer Radikalisierung geführt. Der Grund dafür ist nicht zuletzt, dass die Lage im Irak meist mit den Kategorien des Kalten Krieges analysiert wird. Doch anders als in Vietnam wäre die »nationale Befreiung« nicht gleichbedeutend mit sozialem Fortschritt. Nicht im Kampf gegen die schlichte Anwesenheit ausländischer Truppen, sondern allein im Widerstand gegen die der irakischen Gesellschaft aufgezwungenen Zumutungen des Kapitalismus kann eine emanzipatorische Alternative zur US-Politik entwickelt werden.