Das Meer vor mir

Der Dokumentarfilm »Invisible« begleitet fünf Illegalisierte durch ihren Alltag. von gaston kirsche

Wellen schlagen an den Strand, ein Mann schaut auf die Meerenge von Gibraltar: »Ich bin nur noch 25 Kilometer weg, aber ich kann nicht dort rüber, das macht mich wirklich krank. Da drüben ist Europa.« Oumar hat es aus Guinea-Bissau bis nach Ceuta geschafft. Ceuta ist eine spanische Exklave an der marokkanischen Küste und Territorium der Europäischen Union. Aber wer hier im Flüchtlingslager kaserniert lebt, kann nicht einfach die 30 Euro bezahlen, die die Überfahrt mit der Fähre nach Spanien kostet.

Der Film beginnt mit einigen Sequenzen aus dem Alltagsleben, erst dann folgt der Vorspann: »Invisible – Illegal in Europa«. Handwerklich ist die Dokumentation gut gemacht; allerdings irritiert der Gebrauch des Begriffs »illegal« – als ob es den Slogan »Kein Mensch ist illegal« nie gegeben hätte. Seinen Ausgang nimmt der Film in jener marokkanischen Küstenregion, wo Afrika und die Europäische Union sehr nah aneinanderliegen. Das Meer ist hier an einigen Stellen nur 14 Kilometer breit.

Oumar klaubt am Strand zwei alte Plastikkanister auf und bindet sie zusammen: »Ich bin mit diesen Kanistern gekommen. Ich bin ein Afrikaner, ich muss mir was einfallen lassen. Das Problem ist das Meer, es ist zwischen uns und Europa.«

Schnitt, die Kamera fährt eine Grenzbefestigung entlang. Alle paar Meter ein Flutlichtmast, zwei meterhohe Zäune, mit Natostacheldraht gesichert, dazwischen ein Gang für die Patrouillen. Ein Sachbearbeiter erklärt Oumar, dass sein Antrag auf Asyl abgelehnt wurde.

Der Dokumentarfilmer Andreas Voigt verzichtet auf jeden Kommentar, lässt die Bilder und Interviewpassagen für sich sprechen. Ein Jahr lang hat er fünf Sans Papiers in fünf Ländern der EU durch ihren Alltag begleitet, sie dabei gefilmt und interviewt. »Ich wollte von Menschen erzählen, die mitten unter uns leben – ohne Papiere, illegal. Es gibt keine genauen Angaben für Europa. Aber allein in Deutschland schätzt man die Zahl der Illegalen auf mehr als eine Million. Sie könnten Nachbarn sein, Menschen, denen ich täglich auf der Straße begegne. Wie ist ihr Alltag, was sind ihre Hoffnungen, ihre Träume? Davon wollte ich erzählen. Und davon, wie verschieden die Gründe sind, die Menschen dazu bewegen, ihr Zuhause zu verlassen, ihre Heimat«, erzählt Andreas Voigt. Es hat ihn offenbar gereizt, »unsichtbare« Menschen durch die Kamera sichtbar werden zu lassen. Damit begnügt er sich. Für ihn hat die Kategorie »Heimat« Bedeutung, die Kritik antirassistischer Organisationen an der Illegalisierung von Menschen kommt dagegen nicht vor. So dienen die Bilder von martialischen Grenzanlagen an Spaniens Südküste nur zur Illustration des Themas Grenze. Der Zuschauer erfährt aber nicht, dass diese Grenzanlagen von der EU finanziert werden und in den letzten Jahren massiv ausgebaut wurden, während gleichzeitig die Mittel für die spanische Seenotrettung eingefroren worden sind und jedes Jahr mehrere Hundert Flüchtlinge in der Meerenge ertrinken, von denen viele gerettet werden könnten, wie die sowohl in Spanien als auch in Marokko aktive Organisation »Dos Orillas« (Zwei Ufer) immer wieder betont.

Prince aus Nigeria sitzt in Abschiebehaft in Tilburg, Niederlande: »Ich hatte einen Job in einer Hühnerfarm. Dann kam mal eine Kontrolle, und ich hatte keine Papiere. Sie haben mich zur Polizeistation gebracht und dann hierher ins Gefängnis.« Er wird in der kleinen Zelle dabei gefilmt, wie er sich während einer entwürdigenden Kontrolle vor einem Uniformierten ausziehen muss. Die Bilder haben auch etwas Voyeuristisches. Allzu deutlich wird hier gezeigt, wie ein Mensch erniedrigt wird. Dann ist der lange Gang mit vielen Zellen zu sehen; es ist ein großes Gefängnis.

Prince verabschiedet sich vom Filmteam, aber später begegnen sie sich wieder. Er hat sich seiner Abschiebung widersetzt, ist wieder im Gefängnis. Er hat ein großes Pflaster auf der Stirn: »Als ich mich geweigert habe mitzufliegen, haben sie mich in einen Raum gebracht, wo sie meinen Kopf gegen die Wand geschlagen haben, daher das Pflaster.«

Der Filmemacher Voigt interessiert sich für das Leben der Illegalisierten, aber nicht für die Mechanismen des Ausschlusses. »Nicht Trauer und Angst stehen im Mittelpunkt, sondern die Kraft dieser Menschen, ihr Sich-Durchsetzen-Wollen und -müssen«, erklärt er. Die fünf Einwanderer aus Nigeria, Tschetschenien, Ecuador, Guinea Bissau und Algerien sind – bis auf Prince in der Abschiebehaft – in alltäglichen Situationen zu sehen, in kleinen, beengten Zimmern, in der Flüchtlingsunterkunft oder in einer Wohnung, beim heimlichen Arbeiten in einer Imbissküche, beim Arbeiten auf einem Straßenstrich oder beim Eröffnen eines eigenen Schnellrestauants. Sie haben keine Papiere – bis auf Malika aus Tschetschenien, deren Familie ein Schnellrestaurant in Warschau aufmacht und die optimistisch in die Zukunft schaut. Edita aus Ecuador lebt in Paris: »Auch wenn ich hier noch keine legale, sichere Situation habe, im Alltag fühle ich mich sicher – mal abgesehen von der ersten Zeit hier, als sie mich immer wieder ausgewiesen haben. Aber auch wenn sie mich immer wieder abgeschoben haben, ich bin eine Woche, einen Monat in Ecuador geblieben und wieder zurückgekommen. Europa ist – einen Traum haben, arbeiten, Geld verdienen (…) – und Europa hat mir meinen Frieden gegeben. Um in Ecuador zu überleben, musst du leiden. Hier in Europa kann ich als Transsexuelle leben, kann mit meinem Körper Geld verdienen. Mit diesem Geld kann ich meine Familie in Ecuador unterstützen.« Edita hat gerade einen Bescheid über eine dreimonatige Duldung bekommen und freut sich.

Zakari, der in Deutschland lebt, steht die Traurigkeit ins Gesicht geschrieben: »Ich bin jetzt seit zehn Jahren hier. Ohne Papiere, ohne Zuhause, ohne Frau, ohne Kinder, ohne Arbeit (…) Ich will, dass alle erfahren, wie ich lebe, wie ich die zehn Jahre hier verbracht habe (…) mit meiner Angst, mit allem.« Mit leiser Stimme spricht er über sein Leben. Er wird gezeigt, wie er mit einer Handycam sein enges, vollgestelltes Zimmer abfilmt, dazu einen Text für seine Mutter spricht, der er die Videokassette nach Algerien schicken will. Einsam ist Zakari auch in seinem Job, versteckt in einer Imbissküche: »Einfach mal für zwei Euro ein Bier trinken gehen, das geht gar nicht. Aber wenn ich mal eine Woche Arbeit habe, dann kann ich mal zehn, 15 Euro einfach so ausgeben, dann feiere ich zuhause ein kleines Fest nur für mich.« Im Hintergrund seines Zimmers flimmert ein Fernseher, er beugt sich über ein Papier und liest etwas stockend: »Die bei einer Rückkehr nach Algerien mögliche Todesstrafe wegen Desertion ist nicht als Asylgrund anzuerkennen.« Ein Urteil vom 30. März 1998. »Das ist mein Urteil«, sagt er in die Kamera. Zakari wurde einige Zeit nach den Dreharbeiten festgenommen und abgeschoben.

»Invisible – Illegal in Europa« (D 2004) Kinostart: 5. Mai