Schieß doch, Bulle!

An der Polytechnischen Hochschule in Athen schoss ein Polizist auf unbewaffnete Linke.Sie errichteten Barrikaden und besetzten das Universitätsgebäude. von harry ladis, thessaloniki

Seit 1973 war an der Polytechnischen Hochschule in Athen nicht mehr scharf geschossen worden. Am 17. November jenes Jahres gelang es der damaligen griechischen Militärjunta, den Studenten- und Arbeiteraufstand, während dem auch die Hochschule besetzt worden war, brutal niederzuschießen. Wenige Monate später wurde die Diktatur gestürzt. Grund dafür waren nicht zuletzt die Unruhen, zu denen es infolge der Schüsse an der Hochschule kam.

Das nächste Mal, als die griechische Staatsmacht von der Schusswaffe Gebrauch machte, war auf den Tag genau zwölf Jahre später. Am 17. November 1985 wurde unter einer sozialdemokratischen Regierung der 15jährige Demonstrant Michalis Kaltesas von einem Polizisten hinterrücks erschossen.

Zwanzig Jahre dauerte es, bis die Wachhunde der Sozialdemokraten wieder auf Demonstranten schossen. Im Anschluss an die 1. Mai-Demonstrationen dieses Jahres, die auf den 11. Mai verschoben worden waren, zogen sich etwa 500 anarchistische Demonstranten in die Polytechnische Hochschule zurück. Sie wollten dort über das Vorgehen gegen anhaltende Neonaziangriffe debattieren. In den vergangenen drei Monaten sind etwa zehn Menschen von Rechtsextremen überfallen worden. Die Anarchisten befürchten, dass sich die Polizei bei den Ermittlungen zurückhält.

Gleichzeitig fand in einem anderen Raum der Hochschule eine Buchvorstellung statt. Dort hatten sich zahlreiche ehemalige Besetzer der Polytechnischen Hochschule und Kämpfer gegen die Militärjunta eingefunden. Viele von ihnen sind inzwischen prominente Politiker. Um die Sicherheit von zwei ehemaligen Ministern der sozialdemokratischen Pasok-Regierung, Evagelos Venizelos und Christos Verelis, zu gewährleisten, befanden sich auch Zivilpolizisten in der Nähe des Saals. Sie trugen Waffen, obwohl das auf dem Universitätsgelände ausdrücklich verboten ist, nicht zuletzt wegen der Ereignisse im November 1973.

Die Anwesenden bemerkten zwei der Zivilpolizisten. Sie forderten sie auf, sofort das Gelände zu verlassen. Der eine Polizist kam der Aufforderung nach, der andere, Christophoros Patsias, ignorierte den Hinweis. Als sein Wagen mit Steinen beworfen wurde, schoss er mehrmals – Augenzeugen sprechen von mehr als zehn Schüssen – zunächst in die Luft, danach direkt auf die Menschen. Eine Person wurde dabei am Knie verletzt.

Die Schüsse sorgten für eine Eskalation der Situation. Der Wagen des Polizisten wurde in Brand gesteckt und brennende Barrikaden wurden errichtet. Daraufhin umstellte ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Polytechnische Hochschule. Die Anarchisten hinderten schließlich die über 100 Besucher der Buchvorstellung, darunter etliche Politiker, daran, das Universitätsgelände zu verlassen. Die Situation stellte sich als eine kuriose Art von Geiselnahme dar.

Es wurde viele Stunden darum verhandelt, die Prominenten gehen zu lassen. Die Anarchisten forderten sowohl den Rückzug des Sondereinsatzkommandos als auch, dass das Rektorat der Hochschule die Schüsse verurteile. Überdies verlangten sie, den Namen des schießenden Beamten zu veröffentlichen, damit dieser nicht, wie es in der Vergangenheit häufig der Fall war, unbehelligt davon kommen könne. Am nächsten Morgen wurden ihre Forderungen erfüllt. Die Polizeiführung bezeichnete öffentlich das Verhalten ihres Beamten als »verrückt«. Daraufhin konnten alle Anwesenden die Hochschule verlassen.

Der Versuch, den Vorfall als Tat eines Amok laufenden Polizisten zu verharmlosen, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Selbstherrlichkeit die ehemaligen Widerständler inzwischen auftreten und dass sie heute dort mit bewaffnetem Wachschutz auftauchen, wo sie früher politisch aktiv waren. »Die Faschisten stechen Menschen ab, die Demokraten schießen«, war auf einem Transparent zu lesen, das kurz nach den Schüssen vor der Hochschule aufgehängt wurde.