»Speer war Initiator von Deportationen«

Susanne Willems

Die Historikerin Susanne Willems hat sich in ihrem Buch »Der entsiedelte Jude« mit Alfred Speers Berliner Wohnungsmarktpolitik und insbesondere seiner Deportationsbürokratie beschäftigt. Sie ist freie Mitarbeiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und hat sich über viele Jahre in der Stiftung für die Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz engagiert. Die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten zum prominentesten NS-Architekten und späteren Rüstungsminister flossen auch in Heinrich Breloers Film »Speer und Er« ein. Heike Runge sprach mit der Historikerin in Berlin.

Sie haben über die Rolle Albert Speers im »Dritten Reich« und in der Bundesrepublik geforscht. Was sagt Ihnen Heinrich Breloers Film »Speer und Er«?

Mein Bild von den Nazikriegsverbrechern und den Verbrechen speist sich aus den Dokumenten der Nürnberger Prozesse, und was das Bild von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern angeht, eher aus der Begegnung mit Überlebenden der Verbrechen. Ich arbeite lieber mit einem Film wie »Nacht und Nebel«. Die Idee, nach sechzig Jahren die Nazizeit in Pomp und in Farbe ins Bild zu setzen, begeistert mich nicht.

Nun ist »Speer und Er« ein semidokumentarischer Film, der das öffentliche Bild von Speer verändern könnte.

Das Filmprojekt hat zumindest bei seiner Präsentation den Sturz der Selbstinszenierung Speers in den konservativen Massenmedien vollendet. Das war auch überfällig, wenn man bedenkt, dass Verlage bis heute die Publikationen Speers und seiner Redakteure in hoher Auflage absetzen können.

Speers Redakteur ist Joachim Fest.

Ja. Ich hatte beim Ansehen von »Nachspiel« …

… dem dokumentarischen Teil der Serie, in dem Sie zu Speers Deportationspolitik Auskunft geben …

… den Eindruck, dass man eigentlich Zeuge von einem Film im Film wird, gerade bei diesem Interview, das Fest mit Speer 1969 für den WDR gemacht hat. Es wirkt, als träte Speer als Hauptdarsteller seiner eigenen Person in einer Inszenierung von Joachim Fest auf.

Ich habe die Frage auch einfach mal umgedreht: Was hätte der an einer Millionenauflage interessierte Verleger und was hätte sein Redakteur getan, wenn Speer die Wahrheit gesagt hätte über seine willentliche Beteiligung an verbrecherischer Politik in der Nazizeit, und zwar über das hinaus, was durch den Nürnberger Prozess bekannt war?

Welche Verbrechen konnte man Speer zu dessen Lebzeiten zuschreiben, welche nicht?

Bekannt war seine Verantwortlichkeit für die Deportationsprogramme von ausländischen Arbeitern zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, bekannt war auch seine generelle Verantwortlichkeit dafür, Europa binnen weniger Jahre in Schutt und Asche zu legen. Nicht bekannt war zum Zeitpunkt des Nürnberger Prozesses, dass Speer sowohl ein Beteiligter als auch ein Initator der judenfeindlichen Politik – zunächst in Berlin – und der Ermordung der europäischen Juden war. Das war auch der Punkt, an dem Speer alles dran gesetzt hat, seine Beteiligung zu leugnen. Hätte Speer nach 1966 darüber nicht gelogen, wäre das ja ein Fall für die noch ermittelnden Staatsanwaltschaften in Berlin im Rahmen des Gestapo-Prozesses gewesen.

Gibt es Kontinuitäten in der Politik des Architekten und des Rüstungsministers?

Ja, die gibt es. Speer und sein Verteidiger behaupteten in Nürnberg, es habe einen Bruch gegeben zwischen seiner Tätigkeit als Architekt, die sein Künstlerdasein begründen soll, und seiner Tätigkeit als Rüstungsminister ab Februar 1942. Eine Analyse der Tätigkeit Speers und seiner Neugestaltungsbehörde zeigt, dass das in keiner Weise unpolitisch war. Seit September 1938 hat Speer eine verbrecherische Politik gegenüber den Juden entworfen und durchführen lassen, eine Politik der Entrechtung, die damit begann, das Recht auf Wohnung zu brechen. Die »Judenwohnungen« brauchte Speer, um darin Mieter aus Abrisswohnungen unterzubringen.

Im Film gibt es eine Szene, in der Speers Neffe Wolf mit den Akten aus Speers Behörde konfrontiert wird, die die Vertreibung von Juden aus ihren Wohnungen dokumentieren. Wolf Speer reagiert irritiert und murmelt, so etwas habe er Goebbels zugetraut, nicht Speer.

Der Griff nach den Wohnungen von Juden war interessegeleitet und stand im Dienst der Neugestaltungspläne, es ging nicht darum – zumindest nicht erkennbar –, dass Juden nicht mehr wohnen sollten. Aber das Ergebnis war das gleiche, nämlich eine die Existenz von Juden bedrohende Politik der Entrechtung.

Ihre Untersuchungen der Vorgänge in Speers Generalbauinspektion hat weiter ergeben, dass seine Behörde listenweise Kündigungsanordnungen für Juden an die Gestapo weitergeleitet hat.

Die Eskalationsstufen dieser judenfeindlichen Politik im Jahr 1941 führten zu mehreren Aktionen von Wohnungsräumungen gegen Juden. Die dritte Räumaktion aus Speers Behörde vom August 1941 ist die, die der Gestapo vorgibt, welche Menschen aus den von Speers Behörde bezeichneten 5 000 Wohnungen Opfer der ersten bis zehnten, manche noch der folgenden Deportationen aus Berlin im März, April 1942 werden. Das ist die Beteiligung Speers an dem Verbrechen der Massendeportation der Berliner Juden.

Den letzten Räumauftrag gibt Speer im November 1941 heraus, dieser umfasst alle noch von Juden in Berlin genutzten Wohnungen.

1942 wird Speer Rüstungsminister.

In seiner Person sind ab diesem Zeitpunkt zwei gegenläufige Interessen verkörpert. Als Generalbauinspektor will er alle Juden aus Berlin deportieren lassen, um an sämtliche Wohnungen zu kommen. Als Rüstungsminister braucht er möglichst viele zwangsbeschäftigte Juden für die Rüstungsproduktion. Im August, September gelingt es Speer dann im Zweckbündnis mit Himmler, bei den Ausbauplanungen für Auschwitz diese gegenläufigen Interessen in Übereinstimmung zu bringen und damit ein noch größeres Verbrechen durchführbar zu machen, zu begehen.

Der Name Speer wird heute mit dem nicht realisierten Projekt »Germania« verbunden, nicht mit seinen realisierten Plänen für Auschwitz. Dabei tragen die Pläne zu Auschwitz seinen Namen.

Ja, in Berlin und Auschwitz ist »Sonderprogramm Prof. Speer« und »zusätzliches Bauvolumen Reichsminister Prof. Speer« als vordringlichst durchzuführende Sonderaufgabe die damalige Bezeichnung für den dauerhaften Ausbau des Lagers Auschwitz-Birkenau zum Sklavenarbeits- und Vernichtungslager. Erkennbar wird aus den Unterlagen, dass die Planungen »Prof. Speer« drei unterschiedliche Funktionen des Lagers miteinander in Übereinstimmung bringen: die sofortige Vernichtung der nicht arbeitsfähigen Deportierten, die Verwertung und Ausplünderung der Getöten und die Verwertung der Arbeitskraft der zur Zwangsarbeit selektierten Juden.

Die Debatte darüber, was Speer genau gewusst und selbst initiiert hat, bleibt uns auch nach dem Film und der Präsentation der Dokumente erhalten. Wie wichtig sind Einzelbeweise, wenn man es mit einem Hauptkriegsverbrecher zu tun hat?

Für die Geschichte von Auschwitz bringen die Dokumente nichts Neues. Sie sagen aber etwas aus über die Zuordnung von Verantwortlichkeit innerhalb des deutschen Staates. Natürlich gehört diese Analyse aus unserer Perspektive zur Geschichte von Auschwitz. Es ist aber nicht so erheblich aus der Perspektive der Verfolgten und der Nachbarländer.