Türken im Unrecht

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält den Prozess gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan für rechtswidrig. Die türkische Rechte warnt vor einer Wiederaufnahme des Verfahrens. von udo wolter

Falls der Strafprozess gegen den PKK-Führer Abdullah Öcalan tatsächlich wiederholt werden sollte, wird sich dieses Verfahren sicher vom ersten unterscheiden. Denn die wesentlichen Punkte, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der vergangenen Woche am Verfahren gegen Öcalan gerügt hat, hat die Türkei inzwischen geändert. Im Zuge der Bemühung um einen Beitritt zur EU wurden die Todesstrafe sowie die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft und die Rechte der Verteidigung gestärkt. Doch auch ein zweiter Prozess dürfte mit demselben Ergebnis enden, wie Außenminister Abdullah Gül und Justizminister Cemil Çiçek beschwichtigten.

Für derlei Beschwichtigungen hat die Regierung allemal Grund: In den vergangenen Wochen erlebte das Land eine nationalistische Hysterie, mit der man auf die Forderung nach einer Anerkennung des Genozids an den Armeniern reagierte und die ursprünglich von einigen Jugendlichen ausgelöst worden war, die beim kurdischen Newrozfest auf einer türkischen Flagge herumgetrampelt hatten(Jungle World, 15/05). Nun wurde befürchtet, dass diese Stimmung durch das Strasbourger Urteil angeheizt und sich direkt gegen Europa wenden könnte. Vor allem die extrem rechte MHP und die nationalistische Presse drohen damit, dass durch eine Revision des Öcalan-Prozesses »die Hölle ausbrechen und das Land von Chaos erfasst« würden, wie es in der Tageszeitung Hürriyet hieß. Von solch einem nationalistischen Aufstand war allerdings in den Tagen nach dem Urteil wenig zu spüren, was sich aber im Fall eines neuen Prozesses ändern könnte.

Allerdings dürfte sich auch die von Öcalan nach dem Urteil ausgesprochene Hoffnung, dass eine Revision die Chance zur Lösung des Kurdenkonfliktes bieten könne, kaum erfüllen, jedenfalls nicht in seinem Sinne. Zwar wurden inzwischen das Recht auf Medien und Unterricht in kurdischer Sprache eingeräumt. Ein ernsthaftes staatliches Angebot zur Reintegration ihrer Kämpfer aber wurde der PKK nicht unterbreitet. Nicht zuletzt deshalb hat die kurdische Guerilla, die zu ihrem alten Namen zurückgekehrt ist, unsinnigerweise wieder damit begonnen, bewaffnete Aktionen durchzuführen.

Seither hat sich das Vorgehen der Armee in den kurdischen Gebieten erheblich verschärft. Entsprechend gereizt reagierten Sprecher des Militärs auf das Strasbourger Urteil. Öcalan dagegen predigt seit geraumer Zeit von der Gefängnisinsel Imrali eine Art kommunitaristischen Föderalismus, wobei er einmal mehr so tut, als hätte er soeben das Rad neu erfunden. Im Kern fordert er dabei kollektive Rechte für ethnisch definierte Gruppen auf einer kulturalistischen Grundlage.

Die einzig realistische Möglichkeit, die autoritären Züge des kemalistischen Einheitsstaates zu überwinden, besteht aber gerade nicht in dessen Schwächung zugunsten ethnisch oder religiös definierter Kollektive, sondern in der Stärkung der individuellen und politischen Rechte aller Bürger. Dafür steht die derzeitige Regierung mit ihrer pro-europäischen Politik nur bedingt, da sie gleichzeitig die Islamisierung der Gesellschaft betreibt.

Eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Öcalan wäre nur in formaljuristischer, jedoch nicht, wie von den deutschen Medien einhellig kommentiert, in allgemeiner Hinsicht ein »Lackmustest« für die »demokratische Reife« der Türkei. Zugleich dürfte ein neuer Prozess Initiativen wie die von Intellektuellen gegen den wachsenden Nationalismus oder für ein Ende der Leugnung des Genozids an den Armeniern erschweren, Initiativen, die aus emanzipatorischer Sicht bedeutsamer sind als alles, was aus den Reihen der PKK zu erwarten ist.