»Verurteilt wurde kein Einziger«

Sara Méndez

Wegen der langen Tradition des parlamentarischen Systems gilt Uruguay als die Schweiz Lateinamerikas. Doch auch in diesem Land herrschte von 1973 bis 1985 eine Militärdiktatur. Jeder dritte der knapp dreieinhalb Millionen Einwohner des Landes wurde damals gefoltert oder verhaftet. Die Menschenrechtlerin Sara Méndez war seit den sechziger Jahren in anarchistischen Gruppen und Parteien aktiv und Gründungsmitglied der linksgerichteten Partei Frente Amplio. Sie verbrachte knapp fünf Jahre in uruguayischen Gefängnissen. Mit ihr sprachen Birgit Marzinka und Jessica Zeller.

Wenn die Rede ist von den Diktaturen in Lateinamerika, kommt die Sprache selten auf Uruguay. Warum gilt die Militärherrschaft in diesem Land anders als in Chile oder Argentinien als »sanfte Diktatur«?

Die Voraussetzungen waren sicher in jedem Land unterschiedlich. In Argentinien gab es beispielsweise im Laufe der Geschichte immer wieder Militärputsche. In Uruguay war das nicht so, im Gegenteil. Es gab 1933 nach einem Putsch wenige Tage der Militärherrschaft und dann eine lange Phase parlamentarischer, wenn auch nicht immer demokratischer Regierung. Aber die Institutionen wurden, im Gegensatz zu Chile und Argentinien, immer respektiert. Vor diesem Hintergrund gab es auch in der Form der Repressalien während der Militärdiktatur Unterschiede. Das zentrale Mittel der Unterdrückung war in Uruguay nicht das so genannte Verschwindenlassen von Personen. Stattdessen wurden Gefängnisse eingerichtet. Das Gefängnis war der zentrale Ort der Unterdrückung, in dem die Individualität und die politische Überzeugung der einzelnen Personen gebrochen werden sollten. Das ist eine andere Strategie. Die politischen Gefangenen kamen ins Gefängnis und sind nicht verschwunden wie in Argentinien oder erschossen worden wie in Chile.

Am 20. Mai finden jedes Jahr Demonstrationen statt, die an die Opfer der Militärdiktatur erinnern. Die Menschenrechtsbewegung wählte den Tag, an dem die zentrale Figur der Frente Amplio, Zelmar Michelin, 1976 in Buenos Aires tot in einem Auto aufgefunden wurde, ermordet auf Befehl der damaligen uruguayischen Staatsführung.

Nachdem die Militärs 1976 auch in Argentinien die Macht übernommen hatten, gaben sich die Geheimdienste der verschiedenen Länder im Rahmen der Operation Condor gegenseitig Informationen. Uruguayer, die ursprünglich nach Argentinien geflohen waren, wurden jetzt festgenommen und in geheime Folterzentren verfrachtet. Wenn sie diese überlebten, was meistens nicht der Fall war, wurden sie nach Uruguay zurückgebracht.

Waren Sie auch persönlich betroffen?

Ja, denn ich bin 1973 aus Uruguay geflohen, als die Militärs mich an meinem Arbeitsplatz und zu Hause bereits gesucht haben. 1976 wurde ich dann in Buenos Aires verhaftet und gefoltert. Mein Sohn Simón, der gerade drei Wochen alt war, wurde mir weggenommen. Er wuchs fortan in einer argentinischen Polizistenfamilie auf. Erst vor zwei Jahren habe ich ihn wieder gefunden. Ich bin nach kurzer Zeit wieder in ein Gefängnis nach Montevideo befördert worden, wo ich bis 1981 einsaß.

Warum sind Sie verfolgt worden?

Ich habe angefangen, in politischen Gruppen zu arbeiten, als ich Lehramtsstudentin war, zunächst in einer studentischen Gewerkschaft. Mitte der sechziger Jahre trat ich einem anarchistischen Bündnis bei. Als dann die staatliche Repression stärker wurde und Verbote zunahmen, gründeten wir die Gruppe Resistencia Obrera estudiantil (Studenten- und Arbeiterwiderstand). Hier näherten wir uns marxistischen Ideen an. Mit der Politik der damaligen UdSSR stimmten wir nicht überein. Wir dachten an einen libertären Sozialismus. Innerhalb dieser Gruppierung gab es einen unabhängigen Arm, der sich 1973 gründete und sich von den Massenaktionen der anarchistischen Gruppe FAO teilweise abspaltete. Das war die OPR 33, die propagandistisch und, wenn man so will, militärisch operierte. 1975 gründeten wir im Exil in Argentinien die Partído de la Victoria del Pueblo (Partei für den Sieg des Volkes), die noch heute zum Bündnis der Frente Amplio gehört.

Was ist eigentlich die Besonderheit der Frente Amplio? Schließlich hat sie es geschafft, so lange wie kein anderer linker Zusammenschluss in Lateinamerika zu bestehen, und seit März dieses Jahres stellt sie sogar die Regierung.

Als sich die Frente Amplio 1971 gründete, geschah dies unter dem Vorzeichen, die Linke zu vereinigen. Es gab sehr konkrete Ziele, wie die Verstaatlichung des Bankwesens oder eine Agrarreform. Es bildete sich die Vorstellung heraus, einen Sozialismus mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen zu wollen. Das war mehr als bloß ein Widerstand gegen die Militärdiktatur. Politisch gesehen, war die Frente Amplio für viele Uruguayer langfristig eine Perspektive. Und bei den Wahlen 2004 kam natürlich hinzu, dass viele konservative Uruguayer wegen der Wirtschaftskrise gedacht haben: »Schlechter kann es mir nicht gehen, da kann ich auch etwas riskieren und die Frente Amplio wählen.«

Und wie sah Uruguay in den Jahren nach der Militärdiktatur aus?

Die politischen Gefangenen sind zwar 1985 nach einer Generalamnestie freigelassen worden. Aber die meisten waren mindestens sieben Jahre im Gefängnis, viele sogar zwölf. Das Gesetz beinhaltete auch, dass zwar über die Verbrechen während der Militärdiktatur ein Bericht geschrieben wurde, in dem jedoch keine Namen genannt werden durften. Und verurteilt wurde natürlich auch kein Einziger. Es war ein wirkliches Schlusspunktgesetz.

Ist denn die Aufarbeitung der Vergangenheit ein Thema für die neue Regierung und die Frente Amplio? Immerhin waren viele Minister von den Repressalien persönlich betroffen.

Man muss in diesem Punkt zwischen der Basis und der Führung der Frente Amplio unterscheiden. Die Basis ist offen für dieses Thema und bereit, es zu diskutieren. Die großen Demonstrationen am 20. Mai, die inzwischen auch im Landesinneren stattfinden, sind ein klarer Ausdruck dafür, dass dieser gesellschaftliche Konflikt noch nicht gelöst wurde. Doch das andere ist die politische Führung. Die Frente Amplio beschließt ihre Programme auf den Plena und Kongressen. In einer Resolution sprach man sich gegen die Menschenrechtsverletzungen aus und forderte, die Wahrheit ans Licht zu bringen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Forderungen, die auch mit denen der Menschenrechtsbewegung übereinstimmen. Andererseits will der neue Präsident Tabaré Vázquez nicht an dem Schlusspunktgesetz rütteln, obwohl es sogar im Widerspruch zu den Prinzipien der Interamerikanischen Menschenrechtskommsion steht.

Es war doch Vázquez, der 1989 ein Referendum zur Abschaffung des Schlusspunktgesetzes organisiert hat. Warum akzeptiert er eine Maßnahme, die die Basis der Frente Amplio ablehnt?

In dieser Beziehung ist Tabaré Vazquéz ein typischer Uruguayer, der an die Verfahren glaubt, auch wenn sie nicht seine Meinung widerspiegeln. Wenn das Gesetz in einem Referendum bestätigt wird, wird das eben akzeptiert.

Würden Sie wieder so ein Referendum organisieren?

Sicherlich nicht. Denn das bedeutete, einen Volksentscheid darüber zu organisieren, ob es Gerechtigkeit gibt oder nicht, ob die Militärs verurteilt werden sollen oder nicht. Darüber kann man einfach nicht in einem Referendum abstimmen. Die Bestrafung von Mord und anderen Verbrechen ist auf gesellschaftlicher Ebene selbstverständlich. Es darf keine Ausnahmen geben. Uruguay ist im ganzen südlichen Südamerika das Land, das mit der Aufarbeitung der Militärdiktatur am wenigsten weit gekommen ist.