Ausweg Den Haag

Als belastende Videos veröffentlicht wurden, reagierte die serbische Regierung schnell und ließ fünf Angehörige einer Spezialeinheit verhaften. Die Festnahme von General Mladic soll ebenfalls bevorstehen. von boris kanzleiter, belgrad

Das gab es noch nie. Anstatt mit bitterer Miene vor die Kameras zu treten und die mangelnde Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu beklagen, verbreitet Carla del Ponte in diesen Tagen Optimismus, wenn von Serbien die Rede ist. Geradezu »brillant«, sagte die Chefanklägerin des Tribunals, sei die Verhaftung einiger Mitglieder der Spezialeinheit »Skorpione« verlaufen. Bis Freitag wurden fünf Personen, die mithilfe von Videoaufnahmen identifiziert werden konnten, verhaftet.

Die serbische Polizei reagierte überraschend effizient auf die Aufnahmen, die die Anklagebehörde am 1. Juni in Den Haag im Prozess gegen Slobodan Milosevic gezeigt hatte. Auf dem Video, das sofort von Fernsehsendern in der ganzen Welt ausgestrahlt wurde, ist zu sehen, wie Angehörige der paramilitärischen Einheit sechs wehrlose bosnische Teenager und junge Männer exekutieren, die ihnen nach der Eroberung der fast ausschließlich von Muslimen bewohnten Stadt Srebrenica durch serbische Truppen am 11. Juli 1995 in die Hände gefallen waren.

Für del Ponte ist das Video ein Glücksfall. Denn mit den Aufnahmen kommt sie dem Beweis einen Schritt näher, dass neben den Truppen der bosnischen Serben, die von General Ratko Mladic kommandiert wurden, auch Einheiten aus der von Slobodan Milosevic regierten Bundesrepublik Jugoslawien – den heutigen Republiken Serbien und Montenegro – an dem Massaker in Srebrenica beteiligt waren. Etwa 7 800 männliche bosnische Muslime sollen damals erschossen worden sein. Die Zahl ergibt sich aus einem Vergleich aktueller Namenslisten der internationalen Kommission für Verschwundene. Wenn sich durch weitere Dokumente der Verdacht erhärten lässt, dass die »Skorpione« im Juli 1995 unter dem Kommando des serbischen Innenministeriums standen – was bisher nicht bewiesen ist –, wäre das eine schwere Niederlage für Milosevic. Er behauptet bisher standhaft, mit dem Kriegsverbrechen in Srebrenica nichts zu tun gehabt zu haben.

Del Ponte hat neben dem Erfolg im Milosevic-Prozess, der für sie bisher wenig glanzvoll abgelaufen ist, noch mehr Gründe zur Zufriedenheit. Denn die schnelle Reaktion der Belgrader Behörden auf das schockierende Video deutet auf eine grundlegende politische Umorientierung der nationalkonservativen Regierung von Premierminister Vojislav Kostunica hin. Der spröde Jurist Kostunica stellte sich im Frühjahr 2001, als er noch Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien war, vehement gegen die Auslieferung des im Oktober 2000 abgesetzten Milosevic an das Kriegsverbrechertribunal. Der vor zwei Jahren erschossene Premierminister Zoran Djindjic ließ Milosevic dennoch nach Den Haag ausliefern. Nun ist es seit Beginn des Jahres Kostunica, der die gesuchten serbischen Angeklagten unter Druck setzt, um sie zu einer »freiwilligen Aufgabe« zu zwingen. Weitgehend unbeachtet von den internationalen Medien kamen in den vergangenen Monaten 16 teilweise hochrangige Militär- und Polizeifunktionäre seiner Forderung nach.

Nach den turbulenten Ereignissen der vergangenen Tage kursieren nun wilde Gerüchte in den serbischen Medien, dass auch die Verhaftung oder die »freiwillige Aufgabe« des seit 1996 im Untergrund lebenden Ratko Mladic unmittelbar bevorstehe. Das ist nicht ganz unwahrscheinlich. Konnte sich Mladic bis vor kurzem immer auf ein gut funktionierendes Netzwerk von Unterstützern im Militär verlassen, wird nunmehr der Spielraum für den 63jährigen General enger. Außenminister Vuk Draskovic und andere hochrangige Politiker bestätigten, dass Mladic sich in Serbien versteckt halte. Dies war zuvor immer, wenn del Ponte darauf zu sprechen kam, geleugnet worden.

Zudem haben die diplomatischen Unterhändler der USA und der EU sehr deutlich gemacht, dass die Übergabe Mladics an das Kriegsverbrechertribunal im Interesse der serbischen Regierung liegen sollte. Für den Herbst ist geplant, mit den EU-Beitrittsverhandlungen zu beginnen, zudem stehen zur gleichen Zeit internationale Verhandlungen über den völkerrechtlichen Status des Kosovo an. Die Ergebnisse sind entscheidend für die Zukunft der Regierung Kostunica. Daher dürfte es für ihn offensichtlich gar keinen anderen Ausweg geben, als mit Den Haag zusammenzuarbeiten.

Es sind allerdings nicht nur machtpolitische Faktoren, die Mladic und andere als Kriegsverbrecher gesuchte Angehörige militärischer Einheiten in die Enge treiben. Denn galten für viele Serben, vor allem für mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten, die Armeeangehörigen und Paramilitärs lange Zeit als ein Symbol des gerechten Widerstands gegen »imperiale Aggressoren aus dem Westen« und Sezessionisten in Kroatien, Bosnien und Kosovo, beginnt sich das Bild mittlerweile zu wandeln.

Zwar werden die Kriege in den neunziger Jahren, bei denen nach Schätzungen auf allen Seiten insgesamt über 250 000 Menschen ermordet wurden, vom größten Teil der serbischen Öffentlichkeit weiterhin als Verteidigungskriege aufgefasst. Dennoch wird heute, nach Jahren der Verdrängung, nicht mehr nur über serbische Opfer gesprochen, sondern auch über die Opfer serbischer Truppen. So gab Präsident Boris Tadic mit seiner Äußerung, bei den auf dem Video gezeigten Exekutionen handele es sich um »monströse Verbrechen«, die Stimmung des größten Teils der Bevölkerung wieder. Selbst Aleksandar Vucic von der Serbischen Radikalen Partei, deren Vorsitzender Vojislav Seselj in Den Haag auf der Anklagebank sitzt, erklärte, es handele sich um ein »furchtbares Verbrechen«.

Eine Ursache für den zaghaft beginnenden Prozess einer differenzierteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen ist die Entlarvung vieler, die bisher als Nationalhelden galten, als ordinäre Kriegsprofiteure und Verbrecher. Ein gutes Beispiel dafür sind die Mitglieder der Spezialeinheit »Skorpione«. Bevor die Einheit in Srebrenica eingesetzt wurde, arbeitete die Freiwilligentruppe im Jahr 1991 nach Ausbruch des Krieges zunächst mit dem legendären Paramilitär und Mafiaboss Zeljko Raznjatovic, alias Arkan, zusammen. 1994 wechselten die »Skorpione« mit anderen serbischen paramilitärischen Truppen für viel Geld und mit wenig Skrupeln auf die Seite des muslimischen Warlords Fikret Abdic aus Bihac, der zeitweilig das Oberhaupt der bosnischen Muslime, Aljia Izetbegovic, in Sarajevo bekämpfte.

Wie ein zweites kürzlich veröffentlichtes Videoband zeigt, kämpften sie dabei auch mit Milorad Ulemek, alias Legija, zusammen. Dieser damalige Feldkommandant der Arkan-Tiger und spätere Chef einer Spezialtruppe des Belgrader Innenministeriums war gleichzeitig jahrelang Boss des mächtigen Belgrader Drogenkartells Zemunski Klan. Der mittlerweile in Haft sitzende Legija ist auch als Drahtzieher des Mordes an Zoran Djindjic angeklagt.