Fortschritt nach hinten

Die CDU plant keine vollständige Demontage des Sozialstaats. Ihre Politik orientiert sich eher an den marktwirtschaftlichen Ideen Ludwig Erhards. von richard gebhardt

Der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, bezeichnet die Gewerkschaften als die »wahre Plage in Deutschland«, der Finanzexperte der CDU, Friedrich Merz, merkt an, wer einen »Sumpf trocken legen« wolle, dürfe »nicht die Frösche fragen«, und der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) meint, dass Unternehmer und Gewerkschaften sich als »Schicksalsgemeinschaft« begreifen müssten. Diese Äußerungen könnten dem Konzept der »formierten Gesellschaft« entstammen, das Bundeskanzler Ludwig Erhard Mitte der sechziger Jahre vorstellte. Ein übermäßiger Interessenpluralismus sei ihm zufolge dem Gemeinwohl unterzuordnen, Klassenkonflikte sollten eingeebnet, Kooperation und Verzicht in den Mittelpunkt gerückt werden.

Viele Kommentatoren verweisen angesichts der Vorstellungen der »neuen CDU« häufig auf die gewerkschaftsfeindliche Politik in Großbritannien in der Zeit der Premierministerin Margaret Thatcher. Doch derartige Vergleiche täuschen über die Unterschiede hinweg. Im Gegensatz zur Entwicklung in England hat es hierzulande keinen Bruch mit dem Sozialstaatsgedanken gegeben, sondern eine langsame Erosion des Sozialsystems. Hartz IV und die Agenda 2010 waren das Resultat lang angekündigter Prozesse. Die Bundesrepublik kennt zudem keine klassenkämpferischen Gewerkschaften mit entschlossenen sozialistischen Vorsitzenden wie Arthur Scargill, die in den Arbeitskämpfen unter Thatcher schwere Niederlagen erlitten haben. Wenn heute der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder christdemokratische Politiker mit der Rhetorik der Kapitalverbände der zwanziger Jahre gegen die Gewerkschaften polemisieren, schlagen sie auf eine geschwächte Organisation ein. Der Streik der IG Metall in den neuen Bundesländern im Sommer 2003 etwa wurde von der Gewerkschaftsführung abgebrochen, ohne dass Gerhard Schröder deren Funktionären hätte drohen müssen. Und die Proteste gegen die Agenda 2010 blieben eine kurze Episode.

Für das Programm der sozialen Demontage findet eine künftige rechte Koalition beste Voraussetzungen vor. Innen- wie außenpolitisch hat die rot-grüne Bundesregierung die Vorarbeit geleistet. Schröder verkaufte den Gewerkschaften und opponierenden Parlamentsabgeordneten seine Reformen als hegelianische Einsicht in die Notwendigkeit, mit dem Erfolg, dass die wirtschaftsliberale Politik auch gegen Bedenken aus den eigenen Reihen durchgesetzt werden konnte. Dies gelang auch in der Außenpolitik, etwa mit dem Kosovo-Krieg, den Einsätzen in Mazedonien und in Afghanistan. Die einstigen Protestmilieus wurden vereinnahmt und paralysiert. Man folgte, bisweilen etwas mürrisch, dem Kanzler auf seinem »deutschen Weg«, die Ablehnung des Krieges gegen den Irak machte die anderen Entscheidungen vergessen.

Die Union muss nach einem Wahlsieg keinen umfassenden Richtungswechsel einleiten. Fraglich ist aber, wie hart sie etwa in sozialen Belangen vorgehen wird. Innerparteilich stehen die brachialen Modelle von Friedrich Merz und der Herzog-Kommission der moderateren Politik eines Horst Seehofer gegenüber. Die programmatische Situation der CDU ist widersprüchlich. Den jüngsten Angriffen auf die Tarifautonomie folgte die Forderung nach Beibehaltung der Standards. Die Sozialleistungen dürften dennoch weiter gekürzt, die Rechte der Lohnarbeiter weiter beschnitten, das Antidiskriminierungsgesetz verworfen, die Laufzeiten der restlichen Atomkraftwerke verlängert werden. Die vorläufige Ablehnung eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union (EU) wird die CDU mit der angeblichen kulturellen und religiösen Identität des christlichen Abendlands begründen.

Gerade in den Bereichen Europa, Familie und Wertepolitik dürfte der Schwerpunkt künftig stärker auf modernisierte konservative Topoi gerichtet sein. Hierin besteht der größte Unterschied zur gegenwärtigen Regierung. Denn ob im Loblied auf die heilige Familie, den wahren Patriotismus oder den Stand der Ehe: Gerhard Schröders Zeichen an das konservative Milieu galten als Eingriffe in fremdes Terrain. Aus Sicht der Konservativen beherrschte der Kanzler den klassischen konservativen Kanon so souverän wie Sarah Connor das Lied der Deutschen. Auch die öffentlich erteilten Erziehungsratschläge seiner Gattin konnten keine ernsthafte Wertedebatte entfachen. »Wir müssen unsere Kinder wieder mehr erziehen und ihnen Werte vermitteln. Pflichtbewusstsein, Fleiß, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Anstand, richtiges Benehmen«, hatte Doris Schröder-Köpf der Bildwoche im Jahr 2001 gesagt.

Trotzdem wird sich die CDU familienpolitisch nicht auf die Themen Kinder, Küche und Kirche beschränken. Auch die Tochter des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU), die niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen, die als siebenfache Mutter ein altkonservatives Rollenmodell darstellt, sieht die Tätigkeit als Hausfrau nicht als alleinige Berufung: »Kinder und Karriere – beides muss möglich sein.« Konservative können nicht nur das Familienidyll der fünfziger Jahre beschwören, ihre wertepolitischen Interventionen zielen nicht zuletzt auf Milieus, die sonst grün oder sozialdemokratisch wählten. Auffällig ist deshalb, wie intensiv führende Unionspolitiker an einer Modernisierung des konservativen Programms arbeiten, um sich als die progressive Kraft des Neubeginns darzustellen.

Jürgen Rüttgers etwa, der umjubelte Wahlsieger aus Nordrhein-Westfalen, erinnert in seiner unlängst veröffentlichten Streitschrift mit dem Titel »Worum es heute geht« an ein altes Zitat von Franz-Josef Strauß: »Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.« Konservativ im Sinne von »innovationsfeindlich« sei längst nicht mehr die Union, sondern seien vor allem die Gewerkschaften und die rot-grüne Koalition. Angesichts der demographischen Veränderungen und der Krise des Sozialstaats sei die Union die vorwärts treibende Kraft im Lande, welche »durchgreifende Reformen« beschließen und somit zur »Zukunftssicherung« beitragen wolle. Moderner Konservatismus bedeute keinesfalls reinen Neoliberalismus. Der »Homo consumens« gilt Rüttgers als Sinnbild einer asozialen und sinnentleerten Konkurrenz, die alle festen Bindungen unterläuft. Der Technik- und Fortschrittsoptimismus wird so an einen Wertekanon gebunden und gegen die »linken Reformverhinderer« gerichtet.

Trotzdem bemüht man sich offenbar auch um ein besseres Verhältnis zu den Gewerkschaften. Auf einem Treffen des CDU-Präsidiums mit der Führung des DGB habe man »mit Erstaunen festgestellt, welche beträchtlichen Schnittmengen vorhanden sind«, sagte der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Gerald Weiss, Spiegel online. Gemeinsam sei man etwa gegen rechtliche Behinderungen in der Chemieindustrie, gegen Lohndumping und für Änderungen der Dienstleistungsfreiheit in der EU.

Merkels »neue CDU« orientiert sich weniger an der Politik Thatchers, deren Ziel die Zerschlagung der Gewerkschaften war. Sie greift eher auf Ideen zurück, die bereits in Erhards Konzept der »formierten Gesellschaft« entwickelt wurden. Er forderte schon damals von den Lohnabhängigen zwei Stunden unentgeltliche Mehrarbeit in der Woche, eine Forderung, mit der heute alle wirtschaftsliberalen Ökonomen hausieren gehen. Das Leitmotiv der »neuen CDU« ist eine aktualisierte Fassung der altbekannten Formel: »Freiheit statt Sozialismus«.