Immer auf dem Posten

Mike Watt ist der große Überlebende des US-amerikanischen Hardcore. von felix klopotek

Wenn dies ein Artikel über das LCD Soundsystem wäre, stünde der Autor einer großen Konkurrenz gegenüber. Im Text müsste irgendwas erzählt werden, was nur hier stünde. Der Mechanismus des Hypes sieht für Journalisten so aus: Es geht nicht darum, dass alle über Künstler X oder das Album Y sprechen (wollen/müssen), sondern dass jeder darum bemüht ist, etwas auszuplaudern, was der andere nicht weiß.

Wer allerdings über Mike Watt schreibt, sieht sich von vornherein einem unüberwindbaren Konkurrenten gegenüber: ihm selbst. Der Bassist, Sänger, Komponist und Konzeptualist, Roadie in eigener Sache, San-Pedro-Lokalpatriot und Punk der ersten Stunde lebt ein öffentliches, mehr noch, ein emphatisch gesellschaftliches Leben. Nichts, aber auch nichts, was hier an Fakten aufgeführt ist, was nicht auf Watts Homepage (www.hootpage.com) ausführlicher, detaillierter, genauer und gleichzeitig reflektierter, kritischer und affirmativer erzählt würde – von ihm selbst natürlich.

Er macht nicht sein Leben öffentlich, er lebt öffentlich. Er schafft keine Öffentlichkeit, er ist sie bereits. Und weil zu einer Öffentlichkeit, sollte sie nicht Ausdruck paranoid-egozentrischen Wahns sein, mindestens zwei gehören und am besten ganz viele, ist Watt eben kein Narziss, kein haltloser Egomane, sondern immer Angehöriger eines Kollektivs, einer Szene, einer Bewegung, einer Geschichte.

In diese Geschichte kann sich jeder einklinken. Er gibt bereitwillig Interviews, nach Auftritten ist er es selbst, der CDs und T-Shirts verkauft und den Fragen der Fans Rede und Antwort steht. Gerade hat er eine sechswöchige Europatour beendet, in den Sommermonaten wird er vier Tourneen mit vier verschiedenen Bands bzw. Projekten hinter sich bringen. Zwischendurch probt er in L.A. mit seiner neuen Band, einem reinen Punk-Trio, nach zwanzig Jahren mal wieder Punk.

Als Mike Watt mit Raul Morales am Schlagzeug und Paul Roessler an der Orgel Anfang April auf der Bühne des Kölner Gebäude 9 steht, versammeln sich gerade mal fünfzig Eingeweihte – in einer Halle, die erst ab 200 Besuchern heimelig wird. Mike Watt hat die Sache für sich entschieden. Er hat gespuckt und geknödelt, den Bass nicht gespielt, sondern geschlagen und gewrungen, und das neue Album, das eigentlich keiner im Publikum kennen konnte, ungerührt von A bis Z durchgerockt.

Er gilt in der so genannten popkulturellen Öffentlichkeit Deutschlands als historische Figur, als Protagonist einer vergangenen Öffentlichkeit. Er war Mitgründer der Minutemen, einer der wichtigsten Hardcore-Bands, die jemals existierten, ein paar Millionen Alben werden sie wohl verkauft haben. Ein Bekannter berichtete, wie kürzlich in Los Angeles in einem riesigen Kinosaal eine DVD der Band vorgestellt wurde und wie man als Außenstehender sich gar nicht vorstellen konnte, dass dieser Saal gefüllt werden würde, und wie er dann doch gerammelt voll war und weder die Beastie Boys noch Thurston Moore fehlen durften.

Die Minutemen existierten von 1980 bis 1985 und nahmen die Vorgaben des britischen Post-Punk – unterkühlte Funkyness, komplexere Songstrukturen, Interesse an nicht-funktionalen Geräuschen und experimentellen Arbeitsweisen – begeistert auf, ließen aber das überspitzt Artifizielle weg. Sie ersetzten es durch ein Übermaß an Energie und Intensität, das hatten sie sich vom Jazz abgehört. Die Minutemen zeichnete immer die beste Mischung aus Wucht und Konzentration aus, was sie objektiv einfach besser dastehen ließ als die mit ihnen befreundeten Black Flag, weil die sich bei ihren Konzerten vor lauter Punkhass und Weltekel einer Chaossucht hingaben und einfach nur Krach machten. Die Minutemen haben diesen Hass immer kanalisieren können. Watt ist darüber zum Virtuosen geworden, dabei stets der Mannschaft verpflichtet. Seine Autorität resultiert ganz aus der harten Anstrengung und der permanenten Selbstreflexion.

Der Kult, der um die Minutemen gemacht wird, dürfte vor allem damit zu tun haben, dass sie sich nicht freiwillig aufgelöst haben. D.Boon, Gitarrist und Sänger und Sandkastenfreund von Watt, verunglückte Ende 1985 tödlich. Die Band machte bereits ein halbes Jahr später mit Ed from Ohio als fIREHOSE weiter. Die Musik wurde gar nicht mal schlechter, aber sie blieben nun mal die Band, die es nur gab, weil es D.Boon nicht mehr gab. Jedes Album war von Trauer gekennzeichnet. Bis heute kann Watt nichts machen, ohne dabei auf seinen Freund zu verweisen.

1993 löste sich fIREHOSE auf, und mit seinem ersten Soloalbum trauerte Watt nicht nur um D.Boon, sondern um die ganze Szene. Als 1995 »Ball-Hog or Tugboat?« erschien, war Kurt Cobain ein Jahr tot, und auch dem Letzten dämmerte, dass Punk, Hardcore, Grunge, Indie-Rock als, sagen wir ganz vorsichtig: transnationaler Ausdruck von Jugendrebellion erledigt war. »Alternative Rock« hieß das nun, ein treffender und sehr böser Ausdruck. Auf »Ball-Hog or Tugboat?« versammelte Watt die verblassenden Helden der glorreichen Indie-Dekade um sich und ließ ein letztes Mal sein Modell eines authentischen, und das heißt für ihn: eines politisierten, auf Kollektivität, Autonomie und Aufgeschlossenheit beruhenden Rock aufleben. Alles in allem ergab das ein bereits bei seinem Erscheinen historisches Album.

Das nächste, musikalisch deutlich gestraffte Werk »Contemplating the Engine Room« (1997) war seinem Vater, dem Matrosen, gewidmet. Das war dann zu viel Geschichte, das Album fiel zumindest hierzulande durch. Watt konnte man jetzt abhaken. Aber natürlich ist er keine historische Figur. Er ist Bassist von Iggy Pops Stooges, Bassist bei den wieder auferstandenen Pixies, Bassist in J.Mascis’ Trio, außerdem war er bei Porno for Pyros dabei, hat mit den Red Hot Chili Peppers gespielt und verfolgt mindestens vier eigene Projekte.

Sein aktuelles, im vergangenen August erschienenes Album, »The Secondman’s Middle Stand«, ist erst gar nicht in Europa veröffentlicht worden. Es behandelt ausschließlich eine schwere, aber glücklich überwundene Krankheit, die er hatte. Er verzichtet darauf, die Krankheitsgeschichte, die er minutiös durcharbeitet, in irgendeiner Weise zu »verallgemeinern« – es ist und bleibt seine Geschichte. Damit ist die Grenze von Gesellschaftlichkeit (Mein Leben ist Teil einer Öffentlichkeit) und Klatsch (Ich öffne mein Leben für Voyeurismus) überschritten. Man ist beim Hören etwas unangenehm berührt. Das Transzendierende liegt allein in der Musik. Die Band spielt einen warmen, kraftvollen Post-Hardcore. Sehr entspannt, dennoch druckvoll. Der Bass ist fett und stets im Vordergrund, als Sänger knödelt Watt wie David Thomas von Pere Ubu. Dass Ausbruch, Krise und Genesung eng zusammengehören, dass vereinfacht gesagt nicht jede Depression das Ende sein muss, vermittelt sich nur musikalisch, nicht mehr auf der Textebene.

Watt vertritt die historische Invarianz des Punk. In den USA spielt er vor 2 000 Leuten, hier vor 50. Das ist egal. Er wird in diesem Jahr 48, drei Jahrzehnte Punk liegen hinter ihm, mindestens zwei werden hoffentlich noch folgen. Watt wird immer für ein emphatisches Modell von Öffentlichkeit stehen. Man muss nicht pathetisch von Gegenkultur und permanenter Subversion reden. Es ist einfach gut, dass es da draußen jemanden gibt, der auf seinem Posten bleibt.

Mike Watt + The Secondmen: The Secondman’s Middle Stand (Red Ink/Columbia/Import)