Retter gesucht

Staatskrise in Bolivien von carlos kunze

Nach wochenlangen Massenmobilisierungen ging es in Bolivien in der vergangenen Woche Schlag auf Schlag: Am Montag erfolgte der Rücktritt des Präsidenten Carlos Mesa, der gerade mal 19 Monate im Amt gewesen war. Die Proteste gingen weiter, und die Inthronisation eines Übergangspräsidenten, Eduardo Rodriguez, konnte nicht im Regierungssitz La Paz durchgeführt werden, sondern musste nach Sucre verlegt werden. Eine veritable Staatskrise soll durch dieses Manöver entschärft werden.

Mitte Mai hatten die Proteste begonnen, Anfang Juni erreichten sie einen Höhepunkt, als sich unter den rebellischen Sektoren der urbanen und ländlichen Arbeiter die Parole von der totalen Verstaatlichung des Energiesektors verbreitete. In La Paz wurden wegen Blockaden Haushaltsgas und Luxusgüter knapp, in Cochabamba und Oruro wurden große Demonstrationen abgehalten und Gasraffinerien besetzt, zudem sieben Ölfelder in der reichen Provinz Santa Cruz, in der sich sozialchauvinistische Autonomiegelüste verbreitet haben.

Am Wochenende versuchte der neue Übergangspräsident, durch Gespräche mit der regionalen Gewerkschaftsunion und revoltierenden Nachbarschaftsvereinigungen aus der Stadt El Alto, einem Zentrum der Rebellion, die Situation zu entspannen. Ob das gelingt, steht in den Sternen: Weitere Aktionen wurden angekündigt.

Die Revolten in Bolivien haben in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen und sich radikalisiert. Der so genannte Wasserkrieg im Jahr 2000, der mit dem Rauswurf des transnationalen Konzerns Bechtel endete, stellte im Jahr 2003 ein Modell für den so genannten Gaskrieg gegen den Export von Erdgas über einen chilenischen Hafen in die USA dar, der wiederum die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Energiesektor befeuert.

Die Mobilisierungskraft der sozialen Bewegungen in Bolivien ist so groß, dass sie über kurz oder lang jede Regierung zu Fall bringen können, die ihnen nicht passt. Zugleich sind die Bewegungen derzeit zu widersprüchlich, als dass eine soziale Revolution auf der Tagesordnung stünde. »Viele indigene Kämpfer wollen ihre historische Gesellschaft wieder etablieren. Viele ›antikapitalistische‹ Protestierende kämpfen statt dessen für ›Nationalisierung‹ und eine Rückkehr zum nationalistischen Wohlfahrtsstaat, der große Teile Lateinamerikas (sowohl in populistischen als auch diktatorischen Formen) von den vierziger bis zur Mitte der achtziger Jahre charakterisierte«, sagt Tom Lewis, Co-Autor des Buches »Cochabamba! Water War in Bolivia« im Interview mit dem Socialist Worker.

Im übrigen setzt die »Bewegung zum Sozialismus« von Evo Morales, die großen Einfluss unter den Kokabauern hat, eher auf den legalen Zugang zur Macht denn auf eine Radikalisierung der sozialen Auseinandersetzungen. Morales kann sich Chancen ausrechnen, in künftigen Wahlen die Präsidentschaft zu gewinnen. Zudem sind seine regelmäßigen Reisen in die venezolanische Hauptstadt Caracas niemandem entgangen. Das könnte in der Frage der Verstaatlichung des Energiesektors von Bedeutung sein. Bolivien fehlt sowohl die Technologie als auch das Kapital, die Energieressourcen in eigener Regie auszubeuten, und die transnationalen Konzerne begrenzen ihre Investitionen und schwadronieren von Vertragsbrüchen. Zumindest Technologie ließe sich beim venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und seinem Staatskonzern Petróleos de Venezuela auftreiben. Chávez seinerseits strebt ein gegen die USA gerichtetes regionales Bündnis an. Morales stellt insofern eine staatskapitalistisch-nationalistische Option zur Eindämmung der Revolten dar.