»Die Verstaatlichung genügt nicht«

Welche Bedeutung hat die Energiepolitik für Bolivien? Ein Gespräch mit marco gandarillas vom unabhängigen Dokumentations- und Informationszentrum Bolivien (Cebid) in Cochabamba

Der neue Präsident Eduardo Rodríguez hat kürzlich erklärt, dass er vor den Neuwahlen die Energieressourcen Boliviens nicht verstaatlichen will und kann. Stimmt das?

Es gibt tatsächlich schon viel Kritik von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an Rodríguez. Es ist offensichtlich, dass in seiner Amtszeit nichts hinsichtlich einer Verstaatlichung des Erdgassektors unternommen werden wird, obwohl das, und nicht ein neuer Präsident, das zentrale Anliegen der Protestierenden war. Dabei besitzt Rodríguez einen politischen Handlungsspielraum. Die Verträge, mit denen sich die ausländischen Investoren in den bolivianischen Energiesektor einkauften, wurden niemals von unserem Parlament abgesegnet. Die Privatisierungen widersprechen den Grundsätzen unserer Verfassung. Doch im neuen Kabinett spiegelt sich erneut die Macht der privaten Energiekonzerne deutlich wider. Der neue Energieminister Jaime Dunn war beispielsweise in den neunziger Jahren aktiv am Prozess der Privatisierung beteiligt.

In letzter Zeit sind auch die Unternehmergruppen aus der wirtschaftlich florierenden Provinz Santa Cruz verstärkt öffentlich hervorgetreten. Haben bolivianische und ausländische Unternehmer dort eigentlich dieselben Interessen?

Erstaunlicherweise schon. Die nationalen Unternehmer tanzen ganz nach der Pfeife der ausländischen Investoren. Politiker und Unternehmer aus Santa Cruz fordern offen, die Energieressourcen in ihrer Provinz eigenständig verwalten und ausbeuten zu dürfen. Das wollen sie sich möglichst bald vom bolivianischen Parlament absegnen lassen. Und das, obwohl die Ressourcen dem ganzen Land und der bolivianischen Bevölkerung gehören.

Sind die Forderungen nach einer Verstaatlichung des Erdgassektors eher ein symbolisches Kampfmittel der sozialen Bewegungen, oder hätte der Staat davon wirklich einen signifikanten wirtschaftlichen Vorteil?

Die Bedeutung einer Verstaatlichung wird überschätzt. Mit ihr allein kann weder wirtschaftlicher Wohlstand noch das Ende sozialer Ungerechtigkeit erreicht werden. Aber die Verstaatlichung hat trotzdem eine zentrale Bedeutung. Bolivien ist nach Venezuela das Land mit den größten Erdgasvorkommen in Lateinamerika. Aber diese Ressourcen werden von den multinationalen Energiekonzernen kontrolliert. Durch ihre privaten Monopole in ganz Südamerika, nicht nur in Bolivien, schaffen es Konzerne wie die spanische Repsol, die Preise in den Ländern, wo sie die Ressourcen gewinnen, extrem in die Höhe zu treiben. Die bolivianische Bevölkerung bezahlt für Gas und Öl weit mehr als den Durchschnittspreis auf dem Weltmarkt. So etwas hat es während des früheren Staatsmonopols tatsächlich nicht gegeben.

Und das produziert Unzufriedenheit …

Nicht nur das. Eine Million Bolivianer, also mehr als ein Zehntel der Bevölkerung, lebt außer Landes, weil einfach Bolivien keine Perspektiven für sie bietet. Es gibt deshalb einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass ohne eine Rückgewinnung staatlicher Ressourcen, nicht nur auf dem Energiesektor, die Probleme Boliviens nicht zu lösen sind. Denn nicht mal von dem gegenwärtigen Boom auf dem Erdgasmarkt bekommen wir etwas mit.

Aber reicht es denn, einfach wieder alles zu verstaatlichen? Dieses Modell ist doch nicht gerade neu.

Der Energiesektor ist eigentlich nur das Symbol dafür, dass sich bei der Verteilung des Reichtums grundlegend etwas ändern soll und muss. Denn wenn das nicht bald passiert, kann es hier in den nächsten sechs Monaten ganz schön ungemütlich werden.

interview: jessica zeller