Ein Präsident ohne Ziele

Die neue bolivianische Regierung soll eine minimale Stabilität bis zu den Neuwahlen sichern. Doch die Spannungen zwischen den sozialen Bewegungen und der Oligarchie halten an. von jessica zeller

Gewöhnlich verkünden Präsidenten bei ihrem Amtsantritt ein politisches Programm. Eduardo Rodríguez tat das Gegenteil. »Ich verfolge in meiner Amtszeit keinerlei politische, parteipolitische oder persönliche Ziele«, erklärte er in seiner Antrittsrede am 9. Juni. Die Ansprache war vor allem ein Versöhnungsappell: »Ich rufe die bolivianische Bevölkerung dazu auf, sich wieder zu finden, sich zu solidarisieren und sich friedlich die Hände zu reichen. Ich rufe sie alle dazu auf, mir zur Seite zu stehen, damit wir eines Tages wieder gemeinsam Lieder des Friedens anstimmen können.«

Eduardo Rodríguez ist politisch ein Unbekannter. Seit 2004 ist er Präsident des Obersten Gerichtshofs Boliviens. Erhalten hat er dieses Amt weniger durch Klientelpolitik als wegen seiner nationalen wie internationalen Karriere als Jurist. Wohl nur deshalb konnten sich das bolivianische Parlament und Teile der sozialen Protestbewegungen überhaupt auf ihn als unparteiischen Statthalter der Macht einigen.

Hinzu kommt, dass Rodríguez lediglich als Übergangspräsident fungiert. »Ich will nur Neuwahlen ansetzen und sonst nichts«, zitierte die Zeitung Bolivia Hoy den 49jährigen am Tag nach seinem Amtsantritt. Die Entscheidung von Rodríguez, fast ausschließlich Personen ohne Erfahrung in politischen Ämtern in sein Kabinett zu berufen, spricht für sich. Gegenwärtig ist deshalb davon auszugehen, dass die knapp neun Millionen Bolivianer im Dezember tatsächlich einen neuen Präsidenten und Vizepräsidenten sowie ein neues Parlament wählen werden.

Bis dahin muss Rodríguez durchhalten. In den vergangenen Wochen sah nicht nur sein Vorgänger Carlos Mesa das Land am Rande des Bürgerkriegs. Mesa hatte nach geradezu verzweifelten Fernsehansprachen Anfang Juni seinen Rücktritt erklärt. Als unmittelbare Bestätigung seiner apokalyptischen Befürchtungen folgte die Auseinandersetzung um seinen verfassungsmäßigen Nachfolger, den Senatspräsidenten Hormando Vaca Díez.

Denn obwohl sogar Mesa das zuvor ausdrücklich abgelehnt hatte, versuchte eine Allianz aus rechten Parteien und Teilen des Militärs, ihn dennoch als Staatsoberhaupt einzusetzen. Vaca Díez verkörpert jedoch wie kaum ein anderer die Interessen der Unternehmer und der weißen Oligarchie im reichen Osten des Landes. Kaum verwunderlich also, dass die indigenen sozialen Bewegungen für Mittwoch, den 8. Juni, zu einem Marsch auf die Hauptstadt Sucre aufriefen. Dorthin hatte sich das Parlament verzogen, um über die Nachfolge Mesas und das weitere Vorgehen zu entscheiden.

Tausende Demonstranten verhinderten zunächst, dass die Parlamentssitzung überhaupt abgehalten werden konnte. Als eine Gruppe von Bergarbeitern einen Polizeiposten angriff, wurde sie von Militäreinheiten unter Beschuss genommen. Ein Arbeiter wurde getötet, vier weitere verletzt. Daraufhin kam es in Sucre zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und den Demonstranten.

Erst als Vaca Díez, der sich zwischenzeitlich in die Obhut des Militärs begeben hatte, und der zweite verfassungsgemäße Nachfolger, der Parlamentspräsident Mario Cossío, ihren Verzicht auf das Präsidentenamt erklärt hatten, konnte das Parlament tagen. In einer Sitzung von nur wenigen Minuten wurde der Rücktritt Mesas angenommen und Eduardo Rodríguez zum neuen Staatsoberhaupt ernannt.

Ob in Bolivien nun tatsächlich Ruhe einkehrt, ist zumindest langfristig fraglich. Zu antagonistisch sind die Interessen der reichen weißen Oberschicht des Landes, die bereits an Plänen zur wirtschaftlichen Autonomie der wohlhabenden Provinzen Santa Cruz und Tarija arbeitet, und den sozialen Bewegungen der Indígenas, die knapp 70 Prozent der Bevölkerung des Landes stellen. Denn sie bestehen weiterhin auf der Erfüllung der »Agenda vom Oktober 2003«. Sie enthält die zentralen Forderungen der indigenen sozialen Organisationen: die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, in der grundsätzlich über die Machtverteilung im Land entschieden werden soll, und die Wiederverstaatlichung der natürlichen Ressourcen. Vor allem die Erdgasvorkommen wurden in den neunziger Jahren privatisiert.

Die sozialen Bewegungen haben im Oktober 2003 Mesas Vorgänger Gonzálo Sánchez de Lozada erfolgreich aus dem Land gejagt, obwohl er mit brutalen Militär- und Polizeieinsätzen die Proteste zu beenden suchte. Als auch sein Nachfolger Carlos Mesa, der zunächst als Hoffnungsträger gehandelt wurde, keine Anstalten machte, den Forderungen der sozialen Bewegungen nachzukommen, bereiteten Straßenblockaden und Protestmärsche seiner Regierung ein Ende.

Es ist deshalb recht unwahrscheinlich, dass die indigenen sozialen Bewegungen bis zu den Neuwahlen im Dezember untätig verharren werden, obwohl sie nach dem Amtsantritt von Rodríguez offiziell eine Pause bei ihren Protesten eingelegt haben. Darüber hatte der neue Präsident am Dienstag der vergangenen Woche mit der Fejuve verhandelt, der Vereinigung der Nachbarschaftsräte von El Alto, die die Proteste der letzten Wochen maßgeblich getragen haben. »Wir befinden uns in einer Zwischenphase und müssen jetzt erst mal abwarten. Allerdings bestehen unsere Forderungen weiterhin. Unabhängig davon, wer im Dezember neuer Präsident wird«, sagte der Vorsitzende der Fejuve, Abel Mamani, nach dem Treffen der Jungle World.

Ob die Ziele von Fejuve und anderen eventuell von einem neuen Staatsoberhaupt verwirklicht werden, ist gegenwärtig schwer abzuschätzen. Möglich wäre eine Kandidatur des vergleichsweise pragmatischen Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS). Als Präsident könnte er eine Politik durchsetzen, die den indigenen Interessengruppen auf politischer wie symbolischer Ebene zumindest teilweise genügt und trotzdem die Vertreter der Wirtschaftsinteressen und die weiße Oligarchie nicht zu gewaltsamen Gegenmaßnahmen greifen lässt.

Scheitert die Wahl von Morales jedoch, gibt es zwei Szenarien. Entweder folgt ein vergleichsweise liberales Krisenmanagement, wie es Carlos Mesa betrieben hat und Eduardo Rodríguez vermutlich fortsetzen wird, das jedoch dem bolivianischen Staat, wie die vergangenen zwei Jahre gezeigt haben, kaum Handlungsmöglichkeiten bietet. Oder es folgt die brutale Alternative, ein wirtschaftsnahes rechtes Bündniss, das beim Streit um die mögliche Präsidentschaft von Vaca Díez bereits eine Option war.

Viele Bolivianer fürchten, dass die Oligarchie eine autoritäre und repressive Politik durchsetzen könnte. Marco Gandarillas vom unabhängigen Dokumentations- und Informationszentrum Bolivien, Cebid, in Cochabamba fasst diese Ängste zusammen:«Ich hoffe wirklich, dass in den nächsten Monaten ein Klima der Einheit hergestellt wird, ein Minimalkonsens des Friedens, auch unter den sozialen Bewegungen. Denn wenn das nicht passiert, kann es durchaus sein, dass wir an die Geschichte der Militärdiktatur anknüpfen, die in Bolivien bis 1985 herrschte. Und das bedeutet die brutale Unterdrückung aller sozialen und demokratischen Kräfte.«