Wieder 22 sein

Dinosaur jr.

Es ist ganz erstaunlich, wie viele 37jährige es in Berlin gibt. So viele 37jährige hat man selten versammelt gesehen. Vielleicht sind auch ein paar 36- und 38jährige hier im Postbahnhof Berlin. An dem Ort, an dem gleich das sagenhafte Reunion-Konzert von Dinosaur jr. stattfinden wird.

»Hey, du siehst heute aus wie Klaus Meine, der Sänger von den Scorpions«, sagt der eine 37jährige von beiden zu dem anderen 37jährigen, seinem Kumpel, der lange Haare trägt und dazu Jeans, Turnschuhe und ein zu enges, zu kleines, altes Samtjackett. »Das ist nicht gerade ein Kompliment«, antwortet dieser ihm. Und da hat er zweifelsohne Recht.

Dinosaur Jr. war schon in den achtziger Jahren die richtige Band, lange bevor irgendeiner den Grunge erfunden hat. Keine Widerrede! J. Mascis, der zugegebenermaßen mittlerweile auch ein klein wenig wie Klaus Meine aussieht, nur dass er obendrein auch noch weiße Haare hat, nölt und heult ins Mikrofon wie früher. Die Haarmähne wird nach vorne und nach hinten geworfen. Auf die Gitarre wird eingedroschen, jawoll. Das ist er, der alte J.Mascis! Da darf er auch ein Kugelbäuchlein und weiße Haare haben und auch sonst vom Leben gezeichnet sein. Das interessiert uns nicht. Denn das hier ist Rock ’n’ Roll.

Ja, elektrisch verstärkte Gitarren sind eine gute Erfindung, damit kann man Lärm machen. Das ist Ekstase oder so etwas. Das muss so sein. Das ist Rock, richtiger, echter, authentischer, elektrischer Gitarrenrock. Männerschweiß. Männermusik.

Das muss so laut sein, dass es tief in den Gehörgängen schmerzt. Und das ist es auch. Und es ist schmutziger, lauter, härter und gehörgangzerfetzender, als man sich das vorher vorgestellt hat bei diesen etwas gealterten Herren, die ihre Sache gut machen und drauflosberserkern, als hätten die vergangenen 15 Jahre nicht stattgefunden.

Und die vielen 37jährigen Slacker, die das alles von früher kennen, als sie selbst auch noch jung waren und als diese Sorte Musik gerade modern war, mögen das auch und freuen sich und hopsen und wiegen sich, denn das alles erinnert sie daran, wie es früher einmal war, vor 15 Jahren, als Kurt Cobain noch lebte und man sich noch nicht vorstellen konnte, wie das ist: erwachsen sein. Auch Stagediving probieren ein paar Fans. Aber das ist heute nicht mehr erlaubt. Stagediving verboten! Geht doch zu Napalm Death!

Die Frage wäre nun aber die, ob derartige Reunion-Konzerte sein müssen. Die Antwort lautet: Ja. Sie müssen sein, um der Nostalgie willen, und weil wir uns gern dem Selbstbetrug hingeben, jung und ungestüm zu sein.

Letztes Jahr spielten die wiedervereinigten Pixies in der Stadt, und wenn man wollte, konnte man auf dem Konzert sehen, wie Black Francis sich mit einer beiläufigen und von rotznasiger Gleichgültigkeit zeugenden Geste seine ausgebeulte Jeans über dem riesenhaften Wanst zurechtzog, den er ungerührt zur Schau stellte. Eine Geste, in der mehr Rock ’n’ Roll lag, als Leute wie die von Silbermond, Juli oder »Wir sind Helden« jemals haben werden.

Dem Gefühl, vollständig taub zu sein, war man selten so nahe wie nach diesem Konzert von Dinosaur jr. Und das war schön. Vielleicht ist das Rock ’n’ Roll. Wer weiß. Vielleicht bin ich zu alt dafür.

thomas blum