Dubiose Lektüren

Die Vorwürfe des Historikers Victor Farias gegen Salvador Allende scheinen entkräftet. Aber wer hat die Argumente seiner Fürsprecher geprüft? von horst pankow

Verfolgt man die derzeit recht erfolgreichen Bestrebungen, den Ruf und die wissenschaftliche Reputation des Berliner Autors und Privatdozenten Victor Farias in den Schmutz zu ziehen, fühlt man sich unwillkürlich an Methoden und Mittel des verblichen geglaubten Stalinismus erinnert.

Farias hat im März in Chile die Monografie »Salvador Allende. Antisemitismo y Eutanasia« veröffentlicht, in der er die Nähe des 1973 durch einen Militärputsch gestürzten und getöteten Präsidenten der Unidad-Popular-Regierung zu Nazi-Gedankengut thematisiert. Eine Nähe, die freilich nur für die dreißiger und vierziger Jahre eindeutig nachzuweisen ist und deren Feststellung sich vor allem auf Allendes Promotionsschrift »Higiene Mental y Delincuencia« von 1933 und das von Allende während seiner Amtszeit als Gesundheitsminister der ersten chilenischen Volksfront-Regierung ab 1938 auf den Weg gebrachte »Programm zur Volkshygiene« stützt. Zunächst sorgte Farias’ Veröffentlichung hierzulande für helle Begeisterung: Endlich war wieder ein linkes Standbild vom Sockel gestürzt, endlich schien die Möglichkeit zum Greifen nahe, mit Allende auch Vertretern eines demokratisch-institutionellen »Weges zum Sozialismus« den ideellen Prozess wegen – zumindest intendierter – totalitärer Menschheitsverbrechen zu machen. Diesem Tenor schlossen sich auch linke Medien an.

Ende Mai schlug die Stimmung um, die Begeisterung freilich blieb, änderte nur ihre Richtung. Dabei war eigentlich nichts tatsächlich Neues geschehen: Die in Madrid ansässige Fundación Presidente Allende hatte die von Farias entdeckte und von ihm der Fundación übergebene Dissertation Allendes der Öffentlichkeit via Internet zugänglich gemacht. Kurz zuvor hatte die deutsche Chile-Freundschaftsgesellschaft Salvador Allende e. V. eine »Warnung vor einer diffamierenden Schmähschrift von Victor Farias« in Umlauf gebracht, die »eine Kette von Unwahrheiten ohne jegliche Grundlage« enthalte und deren Autor ein »Leichenschänder und Geschäftewitterer« sei. Über den autoritären Propagandastil, der den Angegriffenen in nahezu antisemitischer Manier erniedrigen will, beschwerte sich niemand.

Es beschwerte sich auch niemand, als Joan Garcés, spanischer Anwalt und Präsident der Fundación in einem Interview mit dem junge-Welt-Redakteur Harald Neuber Farias als »Aufschneider, der den guten Namen der Freien Universität Berlin in Verruf« bringe, denunzierte. Er bediene sich »ihres Namens, um seinen Machwerken den Schein wissenschaftlicher Seriösität zu verleihen«. Redakteur Neuber setzt in derselben Ausgabe der Zeitung noch einen drauf: Farias, schreibt er, sei der Urheber eines »Skandals« um »Quellenfälschungen« und klagt: »Doch Konsequenzen sind unwahrscheinlich.« Er habe diesbezüglich sogar bei der Leiterin des Lateinamerika-Instituts nachgefragt und sei leider abschlägig beschieden worden.

Joan Garcés, von der Presse mal als »enger Kampfgefährte« Allendes, mal als dessen »persönlicher Berater« bezeichnet, scheint der Joker im Streit um Farias und dessen Buch zu sein. Als Träger des so genannten Alternativen Nobelpreises der Uexküll-Stiftung, den er 1999 wegen seines Engagements für eine Verurteilung Pinochets durch europäische Gerichte erhielt, genießt er hierzulande Ansehen. Joan Garcés behauptet nun, »Farias’ Pamphlet verschweigt, dass Allende diese Theorien (über »Rassen« und »Minderwertige«; H.P.) in seiner Dissertation verurteilt, stattdessen legt der Autor Allende die Worte Lombrosos, in der Dissertation tauchen sie als Zitate auf, in den Mund«. Diese Darstellung wird ihm geglaubt und nicht weiter überprüft. Die zuvor in dieser Angelegenheit seriös berichtende Frankfurter Rundschau meldet: »Allende rehabilitiert. Farias’ Vorwürfe entkräftet.«

Doch eine aufmerksame Lektüre der Allendeschen Dissertation erhellt, dass Garcés’ Argumentation zumindest zweifelhaft ist. Zitate, die mit Anführungszeichen und Quellenangabe als solche kenntlich gemacht sind, findet man an dieser Stelle nicht.

Dafür finden sich aber sehr häufig Passagen wie diese: »Steinach, Lipschütz und Pézard ist es gelungen, einen Homosexuellen zu heilen, in dessen Familie es andere Kinderschänder gab und der eine große Anzahl sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale aufwies, indem man ihm Testikelstücke in den Unterleib pflanzte. Nach der Operation veränderten sich die weiblichen Merkmale und der Kranke gab seine homosexuellen Gepflogenheiten auf.« Von einer Distanzierung von dieser und von anderen Stellen gibt es keine Spur. Es sei denn, man interpretiert – wie es von den Verteidigern Allendes oft getan wird – in der Schrift verstreute Phrasen, wie etwa die, »dass jede Gesellschaft ihre Verbrecher und ihre höchsten Menschen formt«, als hinreichende Abgrenzung von biologistischen und rassistischen Ansichten.

Die Behauptung, dass die inzwischen vielfach zitierte Passage aus dem 5. Kapitel über die verbrecherischen Eigenschaften von Juden ursprünglich von dem italienischen Kriminalanthropologen Lombroso stamme, hatte Farias zunächst bezweifelt. (Jungle World, 23/05) Vor allem Lombrosos engagiertes Eintreten gegen den Antisemitismus schien dagegen zu sprechen. Doch die Sache erweist sich als viel abenteuerlicher. Die an der Universität Greifswald lehrende Medizinhistorikerin Mariacarla Gadebusch-Bondio hat sich der Mühe einer Relektüre der Lombrososchen Theorien unterzogen und herausgefunden, dass die gesamte Passage einschließlich der Allende zugeschriebenen dürren Relativierung an ihrem Ende direkt aus Lombrosos 1902 erschienenem Buch »Ursachen und Bekämpfung der Verbrechen« übernommen wurde.

Im Gegensatz zu dem, was die Verteidiger Allendes bislang behaupteten, stammt also auch die Feststellung, es »mangele an präzisen Daten, um diese Einwirkung (der »Rasse«, H.P.) in der zivilisierten Welt zu beweisen«, von Lombroso selbst. Sie kann also auch nicht als »Verurteilung« von Lombrosos Theorien beurteilt werden.

Wie Gadebusch-Bondio zudem herausfand, hat Allende zwar das meiste wörtlich von Lombroso übernommen, doch bezüglich einer Gruppe von »Delinquenten«, der Juden, stark gekürzt und höchst eigentümlich paraphrasiert. Lombroso nämlich hatte für die Beschreibung »jüdischer Delinquenz« mehrere Seiten verwendet und diese mit umfangreichem statistischen und empirischen Material aus verschiedenen europäischen Ländern gefüllt. Vor allem aber hatte er ausführlich darauf hingewiesen, dass die von ihm den Juden zugerechneten Kriminalitätsformen Resultate der durch das antisemitische Übel den Juden aufgezwungenen sozioökonomischen Lebensverhältnisse waren. Dies alles fehlt in der Allendeschen Adaption, stattdessen bleiben wenige, aber suggestive Zeilen über angebliche Charaktereigenschaften der »jüdischen Rasse«.

Wie aber kam Allende auf Lombroso? Gadebusch-Bondio weist darauf hin, dass dieser in der wissenschaftlichen Debatte längst überholt war, als der Doktorand seine Arbeit schrieb. Zwar seien anlässlich Lombrosos Tod 1909, als dessen Theorien in Europa bereits massiver Kritik ausgesetzt waren, in Lateinamerika noch begeisterte Elogen über den »Genius« veröffentlicht worden, doch in den dreißiger Jahren sei auch dort davon kaum noch die Rede gewesen.

Auffällig erscheint ihr auch Allendes Bezugnahme auf den italienischen Endokrinologen Nicola Pende, der ein bekennender Rassist und Faschist war. 1938 unterzeichnete er mit anderen das »Manifesto degli Scienziati Razzisti«, in dem gegen »Mischung der Rassen« und »rassische Hybridität« polemisiert wird. »Die Bewohner Italiens sind arischer Herkunft«, wird dort ebenso proklamiert wie der Satz: »Die Juden gehören nicht zur italienischen Rasse.«

In der positiven Rezeption solcher und ähnlicher Quellen könnte möglicherweise der ideologische Ursprung der Zusammenarbeit des späteren Gesundheitsministers mit Nazi-Wissenschaftlern liegen. »Der derzeitige Gesundheitsminister Dr. Salvador Allende hat eine Kommission einberufen, die ein Projekt zur Sterilisation von Geisteskranken erarbeiten soll«, schreibt 1939 der deutsch-chilenische NS-Mediziner Dr. Eduardo Brücher in einem der Jungle World vorliegenden, von Amech, der Zeitschrift der chilenischen Ärzteassoziation, veröffentlichten Beitrag mit dem Titel »Proyecto de Ley de Esterilización de los Alienados«. Dass es ein solches Projekt, das vom 1934 in Nazi-Deutschland installierten »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« inspiriert war, jemals gegeben habe, wurde von den Verteidigern Allendes bislang vehement bestritten. Dies könnte sich ändern: Im Freitag schreibt Hugo Velarde, der während seines Philosophiestudiums in Leipzig nicht nur mit dem rhetorischen Arsenal des Marxismus-Leninismus vertraut wurde: »Die Eugenik selbst kam (…) im Gegensatz zu den USA oder Europa (…) in Chile nie zur Anwendung.«

Da ist was dran, und das befürchtete 1942 schon Dr. Hans Betzhold, neben Eduardo Brücher federführend am Entwurf des Sterilisationsprojekts beteiligt, als er in der 2. Auflage seines Werkes »Eugenesia«, das übrigens 1938 in Chile mit dem angesehenen Wissenschaftspreis Premio Carlos van Buren ausgezeichnet wurde, die Hoffnung ausdrückte, »dass sich eine so bemerkenswerte Initiative nicht im Nichts verläuft und dieser Entwurf nicht in irgendeinem Aktenschrank liegen bleibt«. Tatsächlich blieb er dort liegen, und Betzholds perspektivische Apologie von »Hitlers Vorschlägen zur Rassenhygiene in ›Mein Kampf‹«, die geeignet seien, »den Volkskörper zu heilen und eine Präventionspolitik für die kommenden Generationen einzuleiten«, blieb ebenso folgenlos wie sein Lob sozialistischer Gesundheitspolitik, die es ermögliche, »dass man sich in Chile nun, 1940, dem Gedanken öffnet, eine Gesetzgebung einzuführen, die die Sterilisierung pathologisch asozialer Elemente in Erwägung zieht«. Als gut erzogener Deutscher vergisst Betzhold das obligate Lob des Vorgesetzten nicht: »Diese segensreiche Initiative verdankt sich dem Gesundheitsminister, Dr. Salvador Allende, der eine Kommission zur Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs zur Sterilisation eingesetzt hat.« In einem Aktenschrank blieb der Entwurf schließlich aufgrund des vehementen Widerstands führender Vertreter der chilenischen Ärzteassoziation liegen. Auch diese kommen in der bereits zitierten Ausgabe der Verbandszeitschrift Amech, die neben Eduardo Brüchers Text auch den Gesetzesentwurf veröffentlichte, zu Wort. Man möchte den Beitrag »Humanismo y Esterilización« des Sterilisationsgegners Gustavo Vila hartnäckigen Verteidigern Allendes zur Lektüre empfehlen, wüsste man nicht um die Vergeblichkeit solchen Ansinnens. Vila fragt darin sich und seine Leser, ob der bekannte Unterschied zwischen Faschismus und Sozialismus, der einer zwischen Barbarei und Menschlichkeit sei, angesichts des Sterilisationsprojektes noch aufrecht zu erhalten sei.