Goodbye, Gaza

Trotz aller Proteste radikaler Siedler wird sich Israel aus dem Gazastreifen zurückziehen, vielleicht sogar früher als geplant. von michael borgstede, tel aviv

Nach drei aufregenden Tagen kehrte am Donnerstag der vergangenen Woche in der kleinen Landwirtschaftsgenossenschaft Kfar Maimon im Negev wieder Ruhe ein. 10 000 Gegner eines Rückzugs aus dem Gazastreifen, die hier seit Montag darauf gewartet hatten, in den Siedlungsblock Gush Katif im Gazastreifen zu marschieren, waren unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Nahezu doppelt so viele israelische Polizisten hatten eine Kette um das Dorf gebildet, um den verbotenen Marsch in die militärische Sperrzone zu verhindern. Schließlich versuchten einige hundert Aktivisten dennoch den Durchbruch, wobei 300 von ihnen festgenommen wurden.

Unter den Rückzugsgegnern herrschte danach Uneinigkeit: War das ein Erfolg? Der Anführer der Siedler, Bentzi Liebermann, gab sich zufrieden und sagte, es sei gelungen, die Sicherheitskräfte zu binden und im Schatten der Demonstration 1 000 Unterstützer in den Siedlungsblock einzuschleusen. Die Sicherheitskräfte bezweifeln diese Zahl, geben jedoch zu, dass in den vergangenen zwei Wochen rund 600 Israelis illegal nach Gush Katif gelangt seien.

Bis zum geplanten Räumungstermin am 15. August will Liebermann 10 000 Unterstützer nach Gaza bringen. Um dies zu verhindern, müsste die Polizei einen Großteil ihrer Kräfte im Süden des Landes konzentrieren. Besucher der israelischen Stadt Sderot werden nur mit Sondergenehmigungen ihr Ziel erreichen können, an Straßensperren sollen Rückzugsgegner frühzeitig abgefangen werden.

Nach den Erfahrungen von Kfar Maimon wird in israelischen Regierungskreisen eine weitere Möglichkeit diskutiert. Der stellvertretende Ministerpräsident Ehud Olmert, ein enger Vertrauter Ariel Sharons, hält eine Vorverlegung des Termins für denkbar: »Diese Konfrontationen verbrauchen eine Menge Energie, stören den Alltag aller Bürger und gereichen niemandem zum Vorteil.«

Wann auch immer er stattfinden mag, aufzuhalten ist der Rückzug wohl nicht mehr. Allmählich setzt sich diese Erkenntnis auch unter den Siedlern durch. Monatelang lebten sie in einer Art Paralleluniversum, übten sich in Realitätsverleugnung und hofften allen Ernstes, ihre mit ideologischem Eifer geführte Kampagne werde von Erfolg gekrönt. Mittlerweile reden immer mehr Siedler laut über Umzugspläne, und ausgetrocknete Vorgärten und verkommende Gewächshäuser in Gush Katif zeugen von einer zunehmenden Hoffnungslosigkeit.

Nur ein harter Kern hofft noch auf ein Wunder. Nichts weniger wäre vonnöten, um den vom Kabinett und vom Parlament genehmigten Rückzugsplan noch zu stoppen. »ER wird uns nicht im Stich lassen«, glaubt der nationalreligiöse Politiker Benny Elon. »Dies ist nichts als eine Prüfung unseres Glaubens, unserer Willensstärke und unserer Treue zum Land Israel.« In letzter Minute werde Gott persönlich eingreifen und die »ethnischen Säuberungen der Regierung Sharon« verhindern.

Die Pragmatiker unter den Rückzugsgegnern, die sich nicht auf eine rettende göttliche Intervention verlassen wollen, sehen jedoch kaum eine Aussicht, die drohende Räumung noch abzuwenden oder zumindest zu verschieben. Durch den Zuzug mehrerer tausend Unterstützer vor allem aus dem besetzten Westjordanland wollten sie den Truppen am Tag X die Arbeit erschweren. Hektisch wurden Zeltfundamente in den Boden gegossen und öffentliche Gebäude zu Gästehäusern umgestaltet. Daraufhin erklärte die Regierung den Gazastreifen kurzerhand zur militärischen Sperrzone. Auch die Hoffnung, israelische Soldaten massenweise zur Befehlsverweigerung bewegen zu können, hat sich als unrealistisch erwiesen.

Es sieht also alles danach aus, dass es spätestens am 17. August für die Siedler ernst wird. Die Behörden erwarten, dass die überwältigende Mehrheit schon zuvor in ihre neuen, temporären Behausungen nach Israel umgezogen sein wird. Wer sich bis zu jenem Tag noch nicht freiwillig davongemacht hat, darf frühmorgens mit einem freundlichen Offizier an der Haustür rechnen. Er wird der Familie Hilfe beim Packen anbieten und sie zum Verlassen ihres Hauses auffordern.

Sollten die Bewohner nach etwas Bedenkzeit nicht freiwillig den bereitstehenden Bus betreten, werden sie gewaltsam weggetragen. Für Frauen und Kinder werden weibliche Soldaten zuständig sein. Die Tragtechnik, so meldeten israelische Medien, werde in den Ausbildungslagern bereits geübt. Während die Siedler in einem bewachten Bus auf die Abfahrt warten, werden Soldaten sämtliche Habseligkeiten der Familie in einen Container packen und diesen in eigens errichtete Lagerhäuser nach Südisrael verfrachten. So weit das optimistische Szenario.

Sollte eine Familie sich im Innern ihres Hauses verbarrikadiert haben, ruft der kommandierende Offizier ein Sonderkommando, das die Türen einreißt, notfalls auch die Fenster oder gar Wände. Im äußersten Fall, wenn die Bewohner mit bewaffneter Gegenwehr drohen oder sich selbst in die Luft sprengen wollen, übernimmt eine Eliteeinheit der Armee das Kommando. Niemand, kein Soldat und auch kein Siedler, soll bei der Räumung verletzt werden. Um ein besonders vorsichtiges Vorgehen zu garantieren, werden die Soldaten kurz vor ihrem Einsatz abermals daran erinnert, dass sie es mit »israelischen Bürgern« und nicht mit »Feinden« zu tun haben. Auch im Umgang mit dem persönlichen Besitz der Siedler soll eine Sorgfalt an den Tag gelegt werden, die die Armee bei Einsätzen in palästinensischen Wohngebieten oftmals vermissen ließ.

Wenn die jüdischen Bewohner den Gazastreifen mitsamt ihrem Hausrat verlassen haben, ist es Zeit für die Toten, nach Israel umzuziehen. Das jüdische Gesetz verlangt es, sie an ihrer neuen Ruhestätte mit einer zweiten Trauerfeier erneut zu begraben.

Schließlich kommen die Bulldozer. Ob die Gebäude innerhalb der Siedlungen den Palästinensern übergeben oder komplett abgerissen werden, ist nach wie vor nicht entschieden. Pragmatisch gesehen, können die Palästinenser im dicht bevölkerten Gazastreifen mit den großzügigen Einfamilienhäusern der Siedler kaum etwas anfangen. Die Israelis wiederum haben kein Interesse daran, viel Geld für die Zerstörung hunderter Häuser auszugeben. Außerdem kann in Jerusalem niemandem etwas daran liegen, noch mehr Bilder israelischer Planierraupen um die Welt zu schicken. Andererseits gibt es in Israel Bedenken, »palästinensische Terroristen« könnten nach dem Abzug in »jüdischen Häusern« Siegesfeiern abhalten.

Freudentänze werden die Palästinenser aber so oder so aufführen, notfalls eben auf Ruinen. Die Hamas hat bereits 30 000 grüne Uniformen für geplante Massendemonstrationen bestellt. Die Terrororganisation will den Rückzug als Erfolg ihrer Selbstmordattentate und Kassam-Raketen verbuchen und sich so in der palästinensischen Bevölkerung beliebt machen. Derart gestärkt, könnte sie bei der ursprünglich für diesen Monat geplanten, jedoch bis auf weiteres aufgeschobenen Parlamentswahl die Fatah-Partei von Präsident Mahmoud Abbas das Fürchten lehren.