Hysterie in Germany

Die guten Umfrageergebnisse für das Bündnis aus Linkspartei und Wasg haben die Parteien im Bundestag in Aufruhr versetzt. von richard gebhardt

Der Westdeutsche Rundfunk überraschte seine Zuhörer unlängst mit einer ungewöhnlichen Ankündigung: Angesichts der hohen Zustimmung zu dem von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine angeführten linken Wahlbündnis in den neuen Bundesländern, wolle die Jugendwelle »Eins Live« mit der Einführung eines »Sonderprogramms Ost« der besonderen politischen Situation »drüben« Rechnung tragen. Demnächst solle mehr Musik von Bands wie den »Prinzen« gesendet werden. Nur auf den Ruf nach einer Quote für Ostpop wurde noch verzichtet.

Freilich folgten dieser Persiflage auf die hektischen Reaktionen nach den Umfrageerfolgen der Allianz aus der Linkspartei (vormals PDS) und der »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit« (Wasg) ebenso wenig Taten wie den Forderungen in der Union nach einem spezifischen Ostwahlkampf. Doch seit Lafontaines Rückkehr in die Bundespolitik, welche die zuvor mit der Fünfprozenthürde kämpfende PDS wieder ins Scheinwerferlicht rückte, sind die anderen Parteien in Bewegung geraten.

Lafontaine sei ein »Hassprediger«, hetzte die brandenburgische SPD gegen ihren ehemaligen Parteivorsitzenden, der CSU-Generalsekretär Markus Söder bezeichnete den nordrhein-westfälischen Spitzenkandidaten der Linken gar als »Nationalkommunisten«. »Der gefährlichste Mann Europas«, wie das britische Boulevardblatt The Sun Schröders ehemaligen Finanzminister nannte, hat bereits vor den Neuwahlen zur Bildung einer großen Koalition gegen die »Gefahr von links« beigetragen.

Der Grund für die Aufregung ist einfach: Den jüngsten Umfragen zufolge kann das linke Wahlbündnis mit 33 Prozent stärkste politische Kraft in den neuen Bundesländern werden. Im gesamten Bundesgebiet wird ein Stimmenanteil bis 15 Prozent für möglich gehalten. Dieses Wahlergebnis hätte nicht nur Konsequenzen für die SPD, die seit dem Jahr 2002 drastische Wahl- und Mitgliederverluste zu verzeichnen hat. Auch für das bürgerliche Lager ist die Situation unübersichtlich geworden, denn die neue Wahlarithmetik gefährdet die schon sicher geglaubte Mehrheit einer schwarz-gelben Koalition. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen konnte sich der neue Ministerpräsident, Jürgen Rüttgers (CDU), wegen der großen Stimmengewinne in traditionell sozialdemokratischen Wahlkreisen noch als »Vorsitzender der NRW-Arbeiterpartei« präsentieren. Für dieses Milieu aber gibt es bei der Bundestagswahl eine weitere Alternative zu Schröders SPD. Zusätzlich erhält die Linkspartei aus dem diffusen Lager der Nichtwähler beachtlichen Zulauf.

Wurde in den vergangenen Jahren das Ende der Ideologien und die Antiquiertheit der politischen Kategorien »links« und »rechts« verkündet, nimmt nun ein solider Richtungswahlkampf Konturen an. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung entdeckt in der linken Wahlliste »eine SED neuen Typs«, Edmund Stoiber warnt im ZDF vor einer rot-roten Volksfront. Während Gysi in den Augen der Regierungsparteien Talkshows als Bühnen des Klassenkampfs missbraucht, nutzt Oskar Lafontaine sein Gespür für die plebejischen Unterströme der politischen Stimmung im Lande. Wo er auch auftritt, agitiert der ehemalige Vorsitzende der Toskana-Fraktion mit viel Zuspruch gegen »die da oben«.

Die berüchtigte Chemnitzer »Fremdarbeiter«-Rede des Saarländers rief auch die Grünen auf den Plan. Sie, die sich nach den Worten von Bundesumweltminister Jürgen Trittin als »moderne linke Partei« profilieren wollen, feierten die Wiederentdeckung des Antirassismus. Dabei sind die Grünen für viele Antirassismusgruppen mittlerweile von ähnlicher Bedeutung wie die CSU für den DGB. Mittlerweile richten Flüchtlingsinitiativen und autonome Linke Forderungen und Wünsche an die Linkspartei und nicht an die grünen Freunde der »Zivilgesellschaft« mit ihren Abschiebeknästen und Grenzschützern.

Wer die allgegenwärtigen Glaubenssätze von der »Alternativlosigkeit der Reformen« nicht teilt, den veranlasst jeder lautstarke Ausfall gegen die »linken Populisten« zu diebischer Freude. Die Versuche der Verketzerung der Linkspartei sind de facto aktive Wahlkampfhilfe für sie. Hinter den bisweilen hysterischen Attacken steht der Versuch, die Definitionsmacht über die Legitimität politischer Programme zu erhalten. Während die meisten bürgerlichen Demokratien in Europa auch eine kommunistische Opposition integrieren konnten, gelten in der Bundesrepublik heute selbst Verteidiger des traditionellen Sozialstaats als unzulässige »linke Extremisten«.

Für die zum Kostenfaktor degradierten Überschüssigen der kapitalistischen Produktionsweise bietet sich in dieser Konstellation die Identifikation mit den »Linkspopulisten« an. Tatsächlich wirken neben dem charismatischen Volkstribun Lafontaine die saturierten SPD-Größen Sigmar Gabriel, Kurt Beck und Wolfgang Clement wie mausgraue Technokraten, die altgediente Ortsvereinsvorsitzende oft nur noch aus Mitleid und Nostalgie beklatschten. Daheim müssen diese treuen Parteisoldaten den verbliebenen Mitgliedern die Notwendigkeit der Zuzahlungen fürs Kassengestell und andere Luxusgüter einbläuen.

Neuerdings wird die anfänglich dominante Polemik gegen die Linkspartei von einer unterkühlteren Strategie begleitet. Beliebt ist bei den Strategen der Bundestagsparteien die nüchterne Feststellung, die Wahlversprechen der Linkspartei und der Wasg seien nicht seriös zu finanzieren. »Dann gehen in Deutschland die Lichter aus!«, kommentierte auch Klaus F. Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin die Forderung nach der Rücknahme der »Arbeitsmarktreformen«. Da bislang weitere prominente Überläufer aus den Reihen der SPD ausblieben, konzentriert sich die Debatte auf Lafontaine und Gysi. Ihnen werden gebetsmühlenartig die Rücktritte von den Ämtern als SPD-Vorsitzender beziehungsweise Berliner Wirtschaftssenator vorgeworfen.

Das Wahlbündnis dagegen feiert schon jetzt einen »Linksruck« der SPD und der Grünen als seinen Erfolg. Als dürftige Belege gelten, dass Joschka Fischer über eine »Luxussteuer« nachdenkt und im SPD-Wahlmanifest Programmpunkte zu finden sind, die vor wenigen Jahren noch den Arbeitnehmerausschüssen der CDU zu zahm gewesen wären.

Einschätzungen dieser Art sind symptomatisch für die konservative Hegemonie, die das Bündnis aus Sozialisten und Sozialpredigern brechen soll. »Wir sind als Sozialstaatspartei gestartet und landen jetzt als Demokratische Sozialisten – viele haben ein Problem damit«, rief Klaus Ernst, Mitgründer der Wasg, den PDS-Delegierten zu. Dies macht die fragile Grundlage des Bündnisses ebenso deutlich wie die mögliche Dynamik auf dem Weg zur pluralen Einheit. In manchen linken Kreisen herrscht angesichts der Aufregung des bürgerlichen Lagers eine Euphorie, als könne man mit der Linkspartei wie Che Guevara auf dem Motorrad in den Reichstag einziehen. »Links« bedeutet aber nach den Kriterien der Mehrheit schon, als Norbert Blüm zu landen.