Rund um die Uhr betreut

Das Bundesverfassungsgericht erklärte Teile des niedersächsischen Polizeigesetzes für nichtig. Der Fall eines Göttinger Atomkraftgegners demonstriert, warum. von jan langehein

Der 25jährige Göttinger Student und Atomkraftgegner David Bertram* staunte nicht schlecht, als er nach dem Castor-Transport im vergangenen Herbst Post von der Polizei bekam. Der Brief enthielt nicht etwa Vorwürfe gegen ihn, auch ging es nicht um eine Vorladung als Zeuge. Er wurde über eine Maßnahme unterrichtet, die mit dem Ende des Castor-Transports abgeschlossen war.

14 Tage lang war Bertram von einer Einheit des niedersächsischen Landeskriminalamtes rund um die Uhr beschattet worden, teilte man ihm mit. Sein Handy, der Festnetzanschluss und seine E-Mail-Korrespondenz seien abgehört bzw. gelesen und dokumentiert, sein Auto sei mit einem GPS-Peilsender ausgestattet worden.

Einzelheiten der Maßnahmen erfuhr Bertram erst, nachdem sein Anwalt, Johannes Hentschel, Akteneinsicht beantragt hatte. Minutiös hatten die Beamten zwei Wochen lang jeden seiner Schritte dokumentiert. Die Akten enthielten Angaben darüber, wann er abends nach Hause gekommen und wann er in seinem Zimmer das Licht gelöscht hatte. »Die haben mich in der Uni bis auf die Toilette verfolgt«, sagte Bertram während einer Pressekonferenz. Beängstigend sei für ihn vor allem die Tatsache, dass sein Privatleben eine Zeitlang bis ins letzte Detail durchleuchtet wurde, ohne dass er davon etwas bemerkt habe.

Die in den Akten dokumentierten Schlussfolgerungen der Kriminalbeamten zeugen teilweise von einer ausgeprägten Paranoia. Aus dem Fakt, dass Bertram, der in der Göttinger Innenstadt wohnt, seinen Wagen immer 800 Meter von seiner Wohnung entfernt parkt, schlossen sie messerscharf, er wolle mit dem Auto nicht in Verbindung gebracht werden. Es sei wahrscheinlich, dass der PKW auf die Schienen gerollt und angezündet werden solle, wenn der Castor-Zug sich Göttingen nähere, mutmaßte die Ermittlungsgruppe. Dass der Student außerhalb der Innenstadt parkt, um Parkgebühren zu sparen, kam niemandem in den Sinn.

Der Grund für die Überwachungsmaßnahme war nach Polizeiangaben die Funktion Bertrams als einer der »Köpfe des Antiatomplenums«. So habe er zum Beispiel die »Schlüsselgewalt« inne. Die Gruppe, heißt es, sei als gefährlich einzustufen und bereit, notfalls auch Menschenleben zu riskieren. Als Beleg für diese Behauptung wird ein Party-Flyer des Plenums herangezogen, auf dem angekündigt wird, der nächste Castor-Transport werde »im Göttinger Widerstandsdschungel stecken bleiben«.

Das Anti-Atom-Plenum selbst ist eine offene Gruppe, die Ort und Zeit ihrer Treffen auf Flugblättern bekannt gibt. Schon deshalb lässt es sich kaum als konspirative Gruppe betrachten, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit schwere Straftaten plant. Und wie gefährlich die Göttinger Atomkraftgegner generell einzustufen sind, verdeutlicht die einzige Protestaktion aus dem Jahr 2003. Damals legten Unbekannte Regenschirme auf die Schienen. Die Göttinger Staatsanwaltschaft wollte David Bertram daraufhin eine Beteiligung an dieser Aktion nachweisen und ihn wegen »gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr« verurteilen lassen. Das Verfahren wurde jedoch auf Staatskosten eingestellt. Weder konnte die Beteiligung Bertrams nachgewiesen werden, noch waren sich die Richter überhaupt im Klaren darüber, ob Regenschirme auf den Schienen einen »gefährlichen Eingriff« bedeuten.

Den Beamten des Göttinger Staatsschutzkommissariats genügte das eingestellte Verfahren gegen Bertram aber offensichtlich, um den ansonsten juristisch völlig unbehelligten Studenten als ganz besonders gefährlichen und gewaltbereiten Aktivisten einzustufen. Sie schöpften alle Möglichkeiten aus, die ihnen das »niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung« bot. So heißt das von der Landesregierung neu gefasste Polizeigesetz seit 2003. Eine Beschattung rund um die Uhr und den »Einsatz verdeckter technischer Hilfsmittel« konnte die Polizei danach auf eigene Faust in die Wege leiten, lediglich für die »präventive Telekommunikationsüberwachung« brauchten die Staatsschützer einen Beschluss des Amtsgerichts. Voraussetzung für die Genehmigung einer solchen Überwachung ist nach Paragraph 33a des Gesetzes die Vermutung, die betreffende Person könne in Zukunft »Straftaten von erheblicher Bedeutung« begehen. Was das heißt, erklärt der Anwalt Johannes Hentschel. Es falle zum Beispiel jedes Vergehen darunter, das »bandenmäßig« begangen werde, an dem also mehr als zwei Leute beteiligt sind. Somit könnten alle Vergehen, die etwa bei Demonstrationen begangen werden, auch kleine Aktionen »zivilen Ungehorsams«, als Argument für einen präventiven Lauschangriff herangezogen werden.

Wegen solcher Regelungen klagten Bürgerrechtler vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Paragraphen 33a des niedersächsischen Polizeigesetzes und bekamen in der vergangenen Woche Recht. Die Richter erklärten die Bestimmungen für nichtig und folgten nahezu vollständig der Argumentation der Kläger. Das Gesetz mache es möglich, völlig unbescholtene Bürger zu überwachen, sagte die Sprecherin des Gerichts, Dietlind Weinland. In einer Pressemitteilung zum Urteil heißt es weiter: »Ferner fehlten im Gesetz Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.«

Für die Verfechter der »Inneren Sicherheit« bedeutet das Urteil einen herben Rückschlag. Einige Bundesländer hatten bereits geplant, dem niedersächsischen Beispiel zu folgen. Mit immer neuen »Sicherheitspaketen« wollten die Landesinnenminister die polizeilichen Überwachungsbefugnisse erweitern. Doch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat diesen Trend vorerst gestoppt. »Schon formal ist das Gesetz nicht zu halten«, sagte Dietlind Weinland. Derartige Bestimmungen fielen in den Aufgabenbereich des Bundes und seien dort bereits geregelt.

Entsprechend verstimmt reagierte die niedersächsische Landesregierung auf das Urteil. Es sei bedauerlich, dass das Verfassungsgericht das Recht des Einzelnen anders interpretiere als das Land, sagte Innenminister Uwe Schünemann (CDU) und fügte hinzu: »Der Datenschutz darf nicht dazu führen, dass ein effektives polizeiliches Handeln nicht mehr möglich ist.«

Bei anderen herrscht dagegen ungeteilte Freude. »Das ist ein großer Tag für die Rechte der Bürger«, kommentiert Johannes Hentschel das Urteil. Er ist sich sicher, dass das Landgericht Göttingen jetzt gar nicht mehr anders kann, als seiner Klage gegen die Überwachung David Bertrams stattzugeben.

* Name von der Redaktion geändert