Schröders Frauen

Beate Middekes Dokumentation über den Wahlkampf Gerhard Schröders 1998 hat es nie ins Fernsehen geschafft. Sehenswert ist sie allemal. von thomas blum

Die SPD ist im Wahlkampf. Wir sehen verschiedene Frauen, die sich der Kamera zuwenden. Sie sprechen von Gerhard Schröders »Charisma«, seiner »Ausstrahlung«, von »frischem Wind« und von »Visionen«. Eine Frau sagt: »Ich hätte ihn gern berührt.« Wir sehen eine Sozialdemokratin, die sich vor lauter Freude darüber, dass Gerhard Schröder ihr auf der Bühne einen Blumenstrauß überreicht hat, kurz vor dem vollständigen Kontrollverlust befindet.

Und wir beobachten andere Frauen, die dem ganzen Wahlkampfunterhaltungsmumpitz kritisch gegenüberstehen: »Der eine sagt, das Soziale wird besser, der andere sagt, das Soziale wird besser. Hinterher wird dann alles schlechter.« Eine ältere Sozialdemokratin, die extra zu einer Wahlkampfveranstaltung gereist ist, um einmal Schröder zu sehen, beschwert sich aufgeregt: »Vier Mark für ein Bier! … Im Pappbecher! … So ein Nepp! So etwas hab’ ich noch nicht erlebt, das ist unverschämt!«

Die Bilder, die man betrachtet, sind jedoch nicht in der Gegenwart entstanden, sondern vor sieben Jahren, als der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Gerhard Schröder, auszog, um die Ära Kohl zu beenden.

Es handelt sich um Szenen aus einem Film, den leider nur wenige Menschen gesehen haben, denn das Fernsehen zeigt bis heute kein Interesse daran, ihn auszustrahlen. Und es ist offensichtlich, dass es nicht an der Qualität des Films liegt.

Die Dokumentarfilmerin Beate Middeke hatte 1998, angeregt vom Direct Cinema und von den Dokumentarfilmregisseuren Richard Leacock und D. A. Pennebaker, die Idee, ihr Kamerastudium an der Fachhochschule Dortmund mit einem Film über Gerhard Schröders Wahlkampf zu beenden, der, so fiel ihr damals auf, von »einer ganz anderen Inszenierung« gekennzeichnet war, als man es von früheren Wahlkampagnen kannte.

Die Filmförderungsanstalten, die sie aufsuchte und bei denen sie ihr Exposé einreichte, lehnten eine Finanzierung des Films ab, »obwohl sie die Idee gut fanden«, wie Middeke sagt, vermutlich auch deshalb, weil bereits ein anderer bekannter Dokumentarfilmer dabei war, nach einem ähnlichen Konzept dasselbe Thema zu bearbeiten. Middeke setzte es sich dennoch in den Kopf, diesen Film zu machen. Interessiert war sie dabei vor allem an einem Blick auf die Wirklichkeit hinter dem vordergründig umhercharmierenden, menschelnden und sich jovial gebenden Kanzlerkandidaten mit dem eingefrorenen Lächeln, der jede seiner Gesten einstudiert hatte.

Sie trieb Geld auf, lieh sich auch welches von Freunden und Bekannten, und kaufte sich eine Kamera, »mit der Maßgabe, dass mir die Hochschule sie nach den Dreharbeiten abkauft, im Grunde hat mir die Hochschule die Kamera geliehen«.

In der Folge reiste sie sechs Wochen lang Schröders Tross hinterher und suchte zahlreiche Wahlkampfveranstaltungen auf, meist allein und nur mit ihrer kleinen Kamera auf der Schulter, »um unauffällig und möglichst nah dran zu sein«. Bald fiel ihr auf, »dass man da nur von dieser Euphorie erschlagen wird«, die von Menschen verströmt wird, die sich unmerklich ganz und gar haben erfassen lassen sowohl vom gebetsmühlenhaften Phrasengedresche über soziale Gerechtigkeit als auch von der pompösen Aura, von der die Reklameauftritte Schröders umgeben sind, die an die Inszenierung einer Wagner-Oper erinnern.

Das Schwierige an dem Film sei auch gewesen, dass man nicht in Ruhe mit den Menschen habe reden können. »Das hat mich beim Drehen wahnsinnig gemacht«, sagt sie. »Es gab keinen Ort, wo nicht irgendeine Box stand, wo nicht irgendetwas herausdröhnte, ob es nun ein Wahlkampflied oder eine Rede war.« Also begann sie damit, auch außerhalb der jeweiligen SPD-Veranstaltungen vor allem Frauen nach ihrer Meinung zu Gerhard Schröder zu befragen. Unter anderem führte sie vor der Kamera Gespräche sowohl mit der Mutter Gerhard Schröders als auch mit seiner Ehefrau Doris Schröder-Köpf, die sagt, dass ihr Mann »sich mehr als Manager denn als Übervater der Deutschen versteht«. Heraus kam dabei ein filmisches Dokument, das aus heutiger Sicht nicht ohne Komik ist.

Als genug Material beisammen war, arbeitete Beate Middeke über ein halbes Jahr am Schnitt. »Zwischendurch musste ich meinen Lebensunterhalt verdienen und auch studieren.« Als der Film schließlich fertig war, begann eine Phase, die in der Rückschau beinahe so erscheint, als habe man sich zu jener Zeit gegen die Filmemacherin verschworen.

Zwar lief der Film 1999, nach einem Jahr rot-grüner Regierung, erfolgreich auf mehreren Dokumentarfilmfestivals in deutschen Großstädten, und viele waren der Ansicht, wie Middeke erwähnt, »dass das jetzt genau der richtige Film« sei. »Denn Schröder war natürlich zuerst an die Renten gegangen, und bei vielen Sachen, die in dem Film noch von ihm versprochen wurden, war zwischenzeitlich klar: Da passiert gar nichts.«

Einige Fernsehjournalisten, die den Film schätzten, aber keine eigenen Sendeplätze hatten, empfohlen ihn weiter an verantwortliche Redakteure, die sie kannten. Aber nach Verhandlungen mit 3Sat, dem Bayerischen Rundfunk, dem WDR und anderen Fernsehsendern stellte sich heraus, dass man dort annahm, der Film sei bereits »von der Zeit überholt«, wie man der Filmemacherin wiederholt zu verstehen gab.

Zur selben Zeit war auch der Rummel um die Spendenaffäre der CDU groß, was bei den vom Aktualitätswahn besessenen Medien zur Folge hatte, dass erst recht niemand mehr einen Film über den sozialdemokratischen Kanzler zeigen mochte, »der auch gerade Holzmann gerettet hatte«, wie Middeke ironisch hinzufügt. »Schlagartig war klar, dass niemand mehr den Schröder-Film haben möchte.« Und auch sonst, so ist ihre Erfahrung, hat man es schwer, für einen ungewöhnlichen oder kritischen Film bei den Fernsehsendern Interesse zu wecken. »Es ist schon schwer genug, jemandem beim Sender dazu zu bringen, sich den Film überhaupt anzusehen«, sagt sie. »Entweder sagt einem schon die Sekretärin, ›wir haben selbst etwas über Schröder, wir brauchen nichts‹, oder man kriegt nach einem dreiviertel Jahr die Kassette zurück mit einer Absage, meistens noch nicht einmal mit einer Begründung.«

In der Zeit danach zeigen auch Frauenfilmfestivals wie die »Feminale« kein Interesse mehr, obwohl man, wie Middeke meint, »gar keinen Film machen kann, der noch mehr auf Politik, Frauen und die Machenschaften der Medien zugeschnitten ist. Es ist frustrierend.«

In der irrigen Annahme, er sei nicht mehr aktuell, haben alle Sender bis heute den Film über Gerhard Schröders ersten Kanzlerwahlkampf abgelehnt. »Ich konnte dieses Argument nie nachvollziehen«, meint die Dokumentarfilmerin. Immer wenn ihr Film doch irgendwo vorgeführt worden sei, »sagten alle: Jetzt, wo man das aus der Nachbetrachtung sieht, entfaltet der Film seine Qualität.«

Dass man ihn dennoch nicht ausstrahlen will, mag aber auch daran liegen, dass man von Filmemachern mittlerweile eine Art genormte 08/15-Ästhetik erwartet. »Das Fernsehen erwartet diese Standardbilder. Es gibt eine Entwicklung, dass auch im Dokumentarfilm immer aufwendiger und mit immer mehr Hochglanz produziert wird. Die Bilder werden immer sauberer.« Beate Middeke indes bevorzugt eine der Produktion von schönem Schein entgegensetzte Arbeitsweise: »Da fällt mein Film, wo die Leute in die Kamera brüllen, wo man ihre Gebisse sieht, natürlich ’raus. Wenn man eine größtmögliche Authentizität erreichen will, muss man nah dran bleiben, mit einer kleinen Kamera arbeiten, sodass man unauffällig arbeiten kann, dass die Leute keine Angst vor den Geräten haben. Es geht auch darum, genau zu beobachten, Sachen unkommentiert dastehen zu lassen, die Situation für sich sprechen zu lassen. Die Kamera wackelt auch mal und es gibt Bilder, die nicht ganz sauber sind. Und trotzdem ist eine Nähe zu den Porträtierten da, die das rechtfertigt. Ich bediene, was das angeht, nicht den Mainstream. Aber das ist etwas, was von den Sendern nicht mehr gewünscht wird«, vermutet sie.

Eigentlich, so ist sich Middeke mit nicht wenigen, die ihren bemerkenswerten Film in kleinen kommunalen Kinos oder an anderen Spielorten gesehen haben, einig, zeige sich eine bestimmte, dem Film innewohnende Stärke erst in der Gegenwart, Jahre nach seiner Entstehung. Und tatsächlich ist der Film als ein Zeitdokument aus heutiger Sicht von nicht unbeträchtlicher Aufklärungskraft.

Betrachtet man einerseits das kämpferische Fäusteschwingen des ehemaligen Kanzlerkandidaten und hört sein großmäuliges Gerede, und nimmt man andererseits die dazwischengeschnittenen teils euphorischen, teils von Ahnungslosigkeit gesättigten oder die bestenfalls naiven Sympathiebekundungen des befragten Wahlvolks zur Kenntnis, kommt vermutlich selbst dem einen oder anderen noch mit Schamgefühl ausgestatteten SPD-Wähler all das heute, nach sieben Jahren rot-grüner Politik, etwas befremdlich vor.

Derzeit arbeitet Beate Middeke an einer Dokumentation über 360 Leute einer niedersächsischen Firma, die Ende letzten Jahres nach einem sechswöchigen Arbeitskampf ihren Arbeitsplatz verloren haben, und bereitet einen Film über eine Frau vor, die von ihren Eltern zur Prostitution gezwungen wurde und später Selbstmord begangen hat. Saubere Bilder sind also von ihr vorerst nicht zu erwarten.

Der Film »Spür’, wie der Wind sich dreht – Schröder und die Frauen« kann im Internet heruntergeladen werden unter: ww.schroeder-film.de