Zwischenstopp Crotone

Das süditalienische Abschiebelager Sant’Anna ist das größte Europas. Die Zustände sind elend, aber wer genug Geld hat, verlässt das Lager so schnell, wie er reingekommen ist. von filippo proietti

Wer am Flughafen Sant’Anna im kalabrischen Crotone landet, wird recht schnell in der kahlen Landschaft die Container- und Wohnwagensiedlung bemerken, die von einem drei Meter hohen Zaun umschlossen ist. Während des Kosovo-Krieges wurde diese ehemalige Nato-Basis an der italienischen Stiefelspitze zu einem Flüchtlingslager umgebaut. Mit 30 000 Quadratmetern und mehr als tausend Plätzen ist es das größte Auffang- und Abschiebelager Europas, in das vor allem Migranten gebracht werden, die auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa aufgegriffen wurden.

Trotz des hohen Zauns, der permanenten Polizeiüberwachung und der strengen Vorschriften, die das Herein- und Herausgehen unmöglich machen sollen, sind immer wieder Menschen geflüchtet. Fast 5 000 waren es seit Juli 2004, und vieles deutet darauf hin, dass Sant’Anna zu einem Durchgangslager für den Menschenhandel geworden ist.

»Der Containerplatz ist zu groß, um Tag und Nacht überwacht werden zu können. Man bräuchte eine Armee, um das ganze Lager zu kontrollieren«, sagt Daniela Trapasso, die verantwortliche Mitarbeiterin des Italienischen Flüchtlingsrates CIR in Kalabrien. »Aber wenn man hört, dass 80 oder 100 bis 120 Leute geflüchtet sind«, fügt sie hinzu, »so ist das schon merkwürdig. Vor allem, weil es sehr schwierig ist, zu Fuß die nächste Stadt zu erreichen.« Auch die grüne Senatorin Adriana Zuleta hält es für kaum vorstellbar, »dass so viele Leute fliehen können, ohne dass es innerhalb des Lagers eine Organisation gibt, die den Leuten bei der Flucht hilft«.

In jüngster Zeit ist die Zahl der Ausbrüche aus Sant’Anna ebenso gestiegen wie die Zahl derer, die aus Lampedusa dorthin transportiert wurden. Erst am 20. Juli verschwanden über Nacht 100 Menschen auf einmal. Nach Angaben der Polizei stammen die meisten von ihnen aus Nordafrika und aus Ägypten, besitzen keine Ausweise und geben sich oft als Palästinenser oder Iraker aus, um nicht sofort abgeschoben zu werden.

Infolge des »Bossi-Fini-Gesetzes« aus dem Jahr 2002 besteht das Lager Sant’Anna, ebenso wie die meisten anderen in Italien auch, aus einer »multifunktionalen Struktur«; einem so genannten Identifizierungslager, das zur Feststellung der Personalien dient, und einem Abschiebelager, wo die Menschen bis zur ihrer Deportation festgehalten werden. Doch schon die Identifizierungslager sind eine Art Gefängnis für Asylbewerber, da sich der amtlich verordnete Gewahrsam oft über viele Wochen erstreckt und die Migranten faktisch als Gefangene behandelt werden, denen es nicht erlaubt ist, das Lager zu verlassen. Dennoch gibt es die meisten Ausbrüche in diesem Teil Sant’Annas.

Seit gut einem Monat ermittelt die Polizei und will herausfinden, ob tatsächlich eine Organisation existiert, die den Migranten für Geld zur Flucht verhilft.

So abwegig scheint die Vermutung nicht, hat die Polizei doch erst im Januar 29 Mitglieder einer Organisation festgenommen, die den Menschenhandel aus Libyen organisierte. Die illegale Zuwanderung nach Italien sei gerade deswegen möglich gewesen, weil die Organisation die Flucht aus dem Lager Sant’Anna ermöglichte. Allein im Jahre 2004 hat diese Organisation nach Auffassung der Polizei etwa 3 000 Menschen nach Lampedusa gebracht und von dort weitergeleitet. 1 500 Euro soll der Preis für eine organisierte Flucht aus dem Lager Sant’Anna betragen haben. Jedoch sind auch nach den Verhaftungen die Ausbrüche weiter gegangen.

Im vorigen Monat veröffentlichte die linksliberale Zeitung La Repubblica die Geschichte eines Flüchtlings, der früher in Crotone untergebracht war. Der Mann, der inzwischen illegal in Palermo lebt, sei im Dezember 2004 zusammen mit 40 anderen Flüchtlingen in das Lager gekommen und habe dort drei Sudanesen kennen gelernt, die ihnen angeboten hätten, sie für Geld durch ein Loch im Zaun herauszubringen und zum Bahnhof zu fahren. Die drei hätten im Lager geschlafen, aber frei ein- und ausgehen können. Er selbst habe das Angebot nicht angenommen, doch von den 40 Flüchtlingen seien am nächsten Tag nur neun übrig geblieben. Die anderen seien zum Erstaunen der Polizei verschwunden.

So erstaunlich ist es aber nicht, zumal die Leute allen Grund zur Flucht haben. Der Staatsanwalt Sergio Tricoli beschreibt das Lager als eine »Pulverkammer«. Dass die Bedingungen dort nicht die besten sind, räumt selbst die Staatsanwaltschaft ein: »Wir haben Prozesse gegen Lagerfachmänner, Polizisten und Migranten angestrengt«, sagt Tricoli. Ermittelt werde wegen körperlicher Gewalt gegen Migranten, sexuellen Missbrauchs und anderer Vergehen.

Als im Juni Gefangene aus dem Lager spontan zu flüchten versuchten, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der Polizei. 14 Leute wurden festgenommen, vier Polizisten wurden schwer verletzt. Die Zahl der verletzten Flüchtlinge ist nicht bekannt, wohl aber, dass zehn von ihnen die Gelegenheit nutzen und weglaufen konnten.

Seit seiner Errichtung im April sind etwa 1 500 Menschen durch das Identifizierungslager in Crotone gegangen. Nach den jüngsten Flüchtlingsströmen aus Lampedusa – 360 Migranten landeten am 25. Juli auf der süditalienischen Insel, 400 waren es am 30. Juni – warten in dem Lager rund 800 Leute auf ihre Identifizierung. »Viele sind schon seit zwei Monaten hier, also doppelt so lange, wie die gesetzlich erlaubte Haftdauer beträgt«, berichtet Daniela Trapasso.

Neben Menschen aus Nordafrika und Ägypten kommen Asylbewerber aus subsaharischen Ländern, aber auch aus asiatischen Staaten wie Pakistan, Bangladesh, Indien und aus dem Nahen Osten. Viele von ihnen geben falsche Personalien an, womit sie sich nach der italienischen Migrationsregelung bereits strafbar machen und abgeschoben werden können. »Unsere Aufgabe ist es, den Leuten zu erklären, dass jeder das Recht hat, Asyl zu beantragen«, sagt Trapasso. »Aber viele Leute glauben, dass ihre Fluchtgründe nicht für eine Anerkennung als Asylberechtigte ausreichen, und geben deswegen eine falsche Identität an.«

Die Unterstützungsarbeit der CIR gestaltet sich schwierig, da sie als einzige Nichtregierungsorganisation Zugang zu dem Lager hat; außer ihr dürfen nur Abgeordnete und die Polizei das Lager betreten. Anwälte dürfen nur mit einer Genehmigung des Innenministeriums hinein, die allerdings nur schwer zu erlangen ist. Für die Medien und andere Menschenrechtsorganisationen bleiben die Tore verschlossen. So wurde im Juni Human Rights Watch der Zugang verwehrt.

Im Juli haben die Präsidenten von 14 der insgesamt 20 italienischen Regionen in einer gemeinsamen Erklärung die Schließung der Flüchtlingslager gefordert. Doch Innenminister Giuseppe Pisanu zeigte sich davon unbeeindruckt. Die Lager seien für die Bekämpfung der illegalen Einwanderung »unentbehrlich«, und der »Kampf gegen den islamistischen Terrorismus« erfordere sogar ihren Ausbau.