»Die Verrohung nimmt nicht zu«

Christian Pfeiffer

In der vergangenen Woche wurde eine 39jährige Frau aus dem brandenburgischen Ort Brieskow-Finkenheerd verhaftet. Ihr wird Totschlag in neun Fällen vorgeworfen. Sie soll in den Jahren zwischen 1988 und 1998 neun Kinder nach der Entbindung getötet und die Leichen vergraben haben. Die Frau ist Mutter von Kindern im Alter von 21, 20, 18 Jahren und von einem Einjährigen. Ihr Mann gibt an, von den Vorgängen nichts mitbekommen zu haben.

Christian Pfeiffer hat vor einigen Jahren Aufsehen erregt, als er das Erziehungssystem der DDR mit für die hohe Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland verantwortlich gemacht hat. Er arbeitet am Kriminologischen Institut in Niedersachsen. Mit ihm sprach Stefan Wirner.

Der brandenburgische Innenminister, Jörg Schönbohm (CDU), hat für einen Eklat gesorgt, als er für die mutmaßlichen Kindstötungen in Brandenburg auch die »von der SED erzwungene Proletarisierung« in der ehemaligen DDR verantwortlich machte. »Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft« in den fünziger Jahren sei ein »Verlust von Verantwortung für Eigentum«, für das »Schaffen von Werten« einher gegangen. Was halten Sie von dieser These?

Das kann so sein, aber es muss nicht so sein. Entscheidend ist, was rauskäme, wenn man systematisch alle vergleichbaren Fälle untersuchen würde, die es in Ost- und Westdeutschland gegeben hat. Auffallend ist für mich, dass die Rate der Kinder, die in Ostdeutschland getötet werden, dreimal so hoch ist wie in Westdeutschland, bei Kindstötung durch die Mutter sogar viermal so hoch. Das gibt zu Fragen Anlass.

Ich kann schon verstehen, dass Herr Schönbohm auf solche Überlegungen kommt. Er trug sie sehr emotional vor, und das, was er gesagt hat über die Kollektivierung der Landwirtschaft, ist natürlich Unsinn. Aber er behauptet auch, es habe eine spezifische Verwahrlosung gegeben wegen der Art und Weise, wie Menschen in der DDR aufgezogen wurden, er nennt das »Verproletarisierung«. Hier ist ein Zusammenhang denkbar, aber genauso gut ist denkbar, dass der Zusammenbruch der Netzwerke unmittelbar nach der Wende und die wachsenden Notlagen junger, schwangerer Mütter auch eine Rolle gespielt haben.

Im konkreten Fall bleibt alles offen, denn das erste Kind wurde ja offenbar noch zu Zeiten der DDR getötet und die anderen dann später. Der Fall bleibt rätselhaft. Ich empfehle, dass man eine solide empirische Forschung durchführt, bevor man sich in Spekulationen verliert. Ich halte es für viel sinnvoller zu fragen: Was tun wir denn, dass es nicht wieder vorkommt?

Können Sie im Rahmen Ihrer Arbeit feststellen, dass es eine allgemeine Verrohung in der Gesellschaft gibt?

Nein. Die Gesamtzahl der getöteten Kinder nimmt seit vielen Jahren ab. Auch die Tötungsdelikte generell nehmen ab, um 45 Prozent in den letzten zehn Jahren. Und nehmen Sie zum Beispiel die gebrochenen Kniescheiben und eingeschlagenen Nasen von Schülern in Schulen, die haben bundesweit um 37 Prozent abgenommen in den letzten zehn Jahren.

Von einer generellen Zunahme der Verrohung kann man nicht reden. Für mich ist trotzdem interessant, warum das Risiko von kleinen Kindern, getötet zu werden, im Osten so viel höher ist als im Westen. Meine pragmatische Antwort lautet: Wir sollten die Hilfsangebote für schwangere junge Mütter in Ostdeutschland verstärken, wir sollten dazu beitragen, dass die Notlagen weniger ausgeprägt sind, hier liegt die Antwort.

Zum Thema Frühförderung von Kindern will ich gemeinsam mit der niedersächsischen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen Modellversuch ins Leben rufen. Dieser soll dazu beitragen, dass Leben gerettet werden, dass es zu weniger Abtreibungen kommt und zu weniger Tötungen.

Auch wenn eine Zunahme solcher Straftaten nicht festzustellen ist, schockiert doch die Art dieser Verbrechen. Kann man qualitativ eine Veränderung solcher Taten feststellen? Werden sie brutaler?

Es handelt sich um einen Erinnerungsverlust bei den jeweiligen Betrachtern. Wir hatten solche Fälle auch schon vor zehn oder 20 Jahren. Wir stellen generell eher eine erfreuliche Zunahme an Zivilisation fest und nicht eine Zunahme solcher grauenhafter Geschichten. Die sind jedes Mal ungeheuer erschreckend, man denkt sich: Um Gottes Willen, hat es das früher auch schon gegeben? Man vergisst einfach, dass es das früher gegeben hat. Unser Gehirn ist glücklicherweise so strukturiert, dass es unangenehme Dinge schneller vergisst als angenehme. Daher entsteht der falsche Eindruck, alles werde immer schlimmer. Es entsteht der Trend zum Immerschlimmerismus, wie ich das nenne.

Wir registrieren eher einen positiven Trend. Die brutalen Delikte werden weniger. Nehmen Sie als Beispiel die Körperverletzungen mit Todesfolge, also Fälle, in denen so lange etwa auf jemanden, der am Boden liegt, eingetreten wird, bis er stirbt. Wir registrieren einen Rückgang solcher Taten um ein Viertel in den letzten zehn Jahren.

Diese Vorfälle sind seltener als früher. Tötungsdelikte haben um 45 Prozent abgenommen. Auch die Zahl der Kindesmorde geht zurück. Die meisten ereigneten sich in den fünfziger und sechziger Jahren, als es noch keine Abtreibungen und keine Pillen gab. Von daher ist es falsch zu sagen, alles werde immer schlimmer.

Wie erklären Sie sich denn den Rückgang solcher Straften?

Weil beispielsweise die Jugend immer friedlicher wird.

Obwohl für viele die soziale Lage schlechter wird?

Das ist nicht unbedingt so. Wir führen gerade eine große Jugendstudie durch, in der wir feststellen, dass zwar die Armut zum Teil größer wird, die Bildung sich aber zum Teil auch verbessert. Und diese ist entscheidend dafür, dass man das Leben selbst in den Griff bekommt.

Jörg Schönbohm hat ja auch auf die »unglaubliche Gleichgültigkeit« der Menschen in Brandenburg hingewiesen.

Zu Recht. Betrachten Sie doch die Gleichgültigkeit des Vaters. Ob die Nachbarn viel gesehn haben, weiß der Himmel. In einem Hochhaus, in dem die Frau primär gelebt hat, bleibt man sich fremd, und jeder geht seiner Wege. Es herrscht nicht das herzliche Einvernehmen wie mit Nachbarn auf dem Dorfe.

Es mag die Lebenssituation der Frau beeinflusst haben, dass keiner so richtig mitbekommen hat, in welcher Lage sie war. Man wird abwarten müssen, ob sie sich selbst, wenn sie mal zur Ruhe gekommen ist, beklagt über die mangelnde Unterstützung. Bisher hat sie das ja nicht getan und niemanden beschuldigt. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob es in diesem Fall eine Kultur des Wegschauens gegeben hat.

Ihrem Mann allerdings glaube ich kein Wort. Ich habe den Eindruck, dass er sich aus seiner Verantwortung stehlen will. Dass er, der neunmal der Erzeuger des Kindes gewesen sein soll, von den Schwangerschaften nichts mitbekommen hat, halte ich für unwahrscheinlich. Dass die Frau von ihm allein gelassen wurde, halte ich eher für denkbar.

Als sie eine Zeitlang bei ihrer Familie lebte, kam ein Kind auf die Welt, es ist jetzt über ein Jahr alt. In dem Augenblick also, in dem sie in ein soziales Netz eingebettet war, brachte sie das Kind zur Welt. Als man ihr Hilfe angeboten hat, hat sie auch das Kind nicht getötet.

Haben Sie Hinweise darauf, dass bei der menschlichen Anteilnahme Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bestehen? Leben die Menschen im Osten eher aneinander vorbei?

Nein. Dazu haben wir keine Daten.